I. Zur Problemstellung: Eine Interpretationskonstante bei Erwin Ratz, Hans Ferdinand Redlich und Theodor W. Adornoa. Zum GegenstandDas Verständnis der Sechsten Symphonie Gustav Mahlers war in den fünfziger und sechziger Jahren bei den führenden Mahler-Forschern von einer Idee geprägt, die sich bei Hans Ferdinand Redlich 1968 so äußert: »Auf einer höheren Erfahrungsebene jedoch muß Mahlers Musik als Ausdruck jener instinktiven Vorahnung eines großen Künstlers begriffen werden, der als Sprecher für die ›Erniedrigten und Beleidigten‹ dieser Welt den fernen Donner der Zukunft in tönenden Symbolen zu deuten weiß. Von hier aus gesehen prophezeit die VI. Symphonie die Schrecknisse dieses von zwei Weltkriegen zerpflügten Jahrhunderts und das Elend jener Minderheiten (im weitesten Sinne dieses Ausdrucks), denen in dem altösterreichischen Juden Mahler der verständnisvollste Dolmetsch erwuchs. Im Sinne solcher philosophischer Erfahrung darf die Katastrophe des Finales der VI. ›kosmisch‹ genannt und ihr ›Held‹ als Gemeinschaft aller Leidenden an dieser Welt verstanden werden. Das philosophische Rätsel dieser Symphonie ist vom kriegerischen Tatensturm dieses Jahrhunderts selbst gelöst worden, in dessen Erstlingsjahren es entstand.«1
Bei dieser Interpretation der Mahlerschen Symphonie handelt es sich nicht um ein schnell hingeworfenes hermeneutisches Zufallsprodukt, das der renommierte Mahler-Forscher Hans Ferdinand Redlich2
»Mahlers Vorliebe für Marschrhythmen und militärische Klangsymbolik ist verschieden gedeutet worden. Gleichviel, ob man diese Neigung (mit Max Brod) chassidisch nennt oder ob man sie (wie der Unterzeichnete) als prophetischen Wahrtraum der großen politisch militärischen Konflagrationen dieses Jahrhunderts empfindet, Mahlers Kunst eignet (in ihren größten Augenblicken) ein Gefühl bang erahnter kosmischer Hybris, das, im tönenden Gleichnis einer oft fieberhaft erregten, visionär erlebten Musik, nachkommenden Generationen den Spiegel vorhält.«3
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