3.3.2.1 Der Rahmen – das Filmstudio
Felsenstein etabliert eine kleine Rahmenhandlung, die darin besteht, die Vorbereitungen
für den Blaubart-Film im Filmstudio zu zeigen. Die Kulissen des vorherigen abgedrehten
Films werden von sich laut unterhaltenden Bühnenarbeitern abgebaut, während andere
Bühnenarbeiter die Blaubart-Kulissen hereintragen. In diesem profanen Chaos läuft die
wegen der anstehenden Filmaufnahme aufgeregte Darstellerin der Fleurette herum. Vor
der Exposition der handelnden Personen exponiert Felsenstein hier den Charakter der
Konstruktion, der Künstlichkeit der Bühnenwelt. Der Zuschauer wird zum
Beobachter der Studioaufnahme. Das löst tendenziell die ›vierte Wand‹ bezüglich der
›Blaubart‹-Operette auf, die man dadurch, dass trotz der Filmstudio-Situation die
Nach-vorn-Ausrichtung der Bühne im I. Akt weitgehend erhalten wurde, hätte etablieren
können.
Durch diese Exposition stellt Felsenstein klar, dass ein Spiel stattfindet, also
Schauspieler eine Rolle spielen. Besonders deutlich wird das in einem kurzen Dialog, in
dem die Darstellerin der Fleurette den Korrepetitor fragt, an welcher Stelle im Duett Nr.
1 ›ihr Knicks kommt‹, die beiden gehen die Stelle durch und der Korrepetitor versucht,
die aufgeregte Darstellerin zu beruhigen. Nicht die größtmögliche Identität von
Schauspieler und Rolle, nicht die Natürlichkeit des Bühnenvorganges, sondern gerade
seine Künstlichkeit (das Geprobte der Bühnenvorgänge) wird zum Gegenstand des
Bühnengeschehens. Die persönliche Disposition der Darstellerin (ihre Aufgeregtheit), die
mit dem Seelenleben des darzustellenden Charakters Fleurette nichts zu tun haben,
werden in den Mittelpunkt gerückt. Dieser Rahmen wird geschlossen durch den
Galopp zu Blaubarts Schloss im Finale dieses Aktes. In einer Nahaufnahme
sieht man vermeintlich reitend Boulotte und Blaubart, im Hintergrund zieht
die Landschaft, durch die sie reiten, vorbei. Dann wird die Kamera langsam
zur Totalen aufgezogen, wodurch man erkennt, das die beiden sich auf der
Stelle bewegen, während einzelne Bestandteile der Landschaft hinter ihnen
bewegt werden. Die Filmstudio-Situation ist wieder hergestellt, das Spiel als Spiel
gekennzeichnet.
3.3.2.2 Schäfer-Idyll
Auch innerhalb des I. Aktes spielt Felsenstein immer wieder mit dem Element der
›vierten Wand‹. Im Verlauf der ganzen Exposition bezieht sich die Inszenierung auf die
existente, weil szenisch etablierte Instanz des Publikums ›hinter‹ der Kamera. Die
Figuren unterbrechen ihr Bühnenspiel und stellen sich vor, um dann jedoch glaubwürdig
beispielsweise die naive Verliebtheit ihrer Figuren (Saphir, Fleurette) oder das
Geheimnis, ihren jeweiligen Herrn zu hintertreiben und zu hassen (Graf Oscar,
Popolani), zu spielen. Bei ihren direkten Ansprachen an den Zuschauer steigen die
Darsteller jedoch nicht aus ihren Rollen aus, sie stellen sich als Fleurette, Popolani etc.
vor, d. h., eine Verfremdung der Figur, etwa im Sinne Brechts, findet nicht
statt, nur das illusionistische Moment der ›vierten Wand‹ wird aufgehoben. Die
Figuren sind gewissermaßen erweitert um ihr Wissen, Bühnenfiguren zu sein.
Keineswegs ergibt sich darüber schon eine intentionale Kommentarebene zur
Stückhandlung.
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