- 102 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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3.3.2.1 Der Rahmen – das Filmstudio

Felsenstein etabliert eine kleine Rahmenhandlung, die darin besteht, die Vorbereitungen für den Blaubart-Film im Filmstudio zu zeigen. Die Kulissen des vorherigen abgedrehten Films werden von sich laut unterhaltenden Bühnenarbeitern abgebaut, während andere Bühnenarbeiter die Blaubart-Kulissen hereintragen. In diesem profanen Chaos läuft die wegen der anstehenden Filmaufnahme aufgeregte Darstellerin der Fleurette herum. Vor der Exposition der handelnden Personen exponiert Felsenstein hier den Charakter der Konstruktion, der Künstlichkeit der Bühnenwelt. Der Zuschauer wird zum Beobachter der Studioaufnahme. Das löst tendenziell die ›vierte Wand‹ bezüglich der ›Blaubart‹-Operette auf, die man dadurch, dass trotz der Filmstudio-Situation die Nach-vorn-Ausrichtung der Bühne im I. Akt weitgehend erhalten wurde, hätte etablieren können.

Durch diese Exposition stellt Felsenstein klar, dass ein Spiel stattfindet, also Schauspieler eine Rolle spielen. Besonders deutlich wird das in einem kurzen Dialog, in dem die Darstellerin der Fleurette den Korrepetitor fragt, an welcher Stelle im Duett Nr. 1 ›ihr Knicks kommt‹, die beiden gehen die Stelle durch und der Korrepetitor versucht, die aufgeregte Darstellerin zu beruhigen. Nicht die größtmögliche Identität von Schauspieler und Rolle, nicht die Natürlichkeit des Bühnenvorganges, sondern gerade seine Künstlichkeit (das Geprobte der Bühnenvorgänge) wird zum Gegenstand des Bühnengeschehens. Die persönliche Disposition der Darstellerin (ihre Aufgeregtheit), die mit dem Seelenleben des darzustellenden Charakters Fleurette nichts zu tun haben, werden in den Mittelpunkt gerückt. Dieser Rahmen wird geschlossen durch den Galopp zu Blaubarts Schloss im Finale dieses Aktes. In einer Nahaufnahme sieht man vermeintlich reitend Boulotte und Blaubart, im Hintergrund zieht die Landschaft, durch die sie reiten, vorbei. Dann wird die Kamera langsam zur Totalen aufgezogen, wodurch man erkennt, das die beiden sich auf der Stelle bewegen, während einzelne Bestandteile der Landschaft hinter ihnen bewegt werden. Die Filmstudio-Situation ist wieder hergestellt, das Spiel als Spiel gekennzeichnet.

3.3.2.2 Schäfer-Idyll

Auch innerhalb des I. Aktes spielt Felsenstein immer wieder mit dem Element der ›vierten Wand‹. Im Verlauf der ganzen Exposition bezieht sich die Inszenierung auf die existente, weil szenisch etablierte Instanz des Publikums ›hinter‹ der Kamera. Die Figuren unterbrechen ihr Bühnenspiel und stellen sich vor, um dann jedoch glaubwürdig beispielsweise die naive Verliebtheit ihrer Figuren (Saphir, Fleurette) oder das Geheimnis, ihren jeweiligen Herrn zu hintertreiben und zu hassen (Graf Oscar, Popolani), zu spielen. Bei ihren direkten Ansprachen an den Zuschauer steigen die Darsteller jedoch nicht aus ihren Rollen aus, sie stellen sich als Fleurette, Popolani etc. vor, d. h., eine Verfremdung der Figur, etwa im Sinne Brechts, findet nicht statt, nur das illusionistische Moment der ›vierten Wand‹ wird aufgehoben. Die Figuren sind gewissermaßen erweitert um ihr Wissen, Bühnenfiguren zu sein. Keineswegs ergibt sich darüber schon eine intentionale Kommentarebene zur Stückhandlung.


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