- 104 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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3.3.2.3 Eros und Parodie, Boulotte und Bobèche

Das Parodistische zeigt in Felsensteins Inszenierung den Abstand zu menschlicher Natürlichkeit an. Alle Figuren sind parodistisch überzeichnet, jedoch in verschiedenem Ausmaß. Ein Kriterium, den Kern der jeweiligen Figur zu erfassen, ist der Grad ihrer Überzeichnung. Die drastischste Karikatur liefert zweifellos Bobèche ab. Diesem zu klein geratenen König ist jegliche Menschlichkeit abhanden gekommen. Alles unterliegt dem höfischen Zeremoniell, festgelegt im ›komplizierten Tagesprogramm‹. Felsenstein und der – geniale – Schauspieler Werner Enders geben die Karikatur eines durch seinen Machttrieb deformierten Herrschers. Die Feststellung beim Abschreiten des Defilées der Höflinge ›Fünf Zentimeter tiefer noch als gestern – Bon!‹ ist nicht nur ein Gag, sondern wird zur bezeichnenden Geste der Zustände am Hof. Alle sind den Launen des Herrschers ausgesetzt und der Inhalt der Launen besteht immer im Machttrieb des Herrschers. Der ganze Hof hat gleichzeitig Angst vor seiner Ordnung und will in ihr emporkommen, was im Hofschranzen-Chor (Nr.10) gezeigt wird. Eine blasierte Meute von abgewrackten, buckelnden Höflingen ›dürstet, unserm Fürst uns zu nahen‹ und beobachtet sich dabei mit gegenseitigem Misstrauen aus den Augenwinkeln, lechzend nach dem eigenen Vorteil.

Die absurde Übertreibung der Figurenzeichnung Bobèches und seines Hofes dient nicht der Pointe, vielmehr ergeben sich Pointen aus der exaltiert-debilen und darüber gefährlichen (Macht-)Verrücktheit Bobèches. Die Parodie gipfelt im Dialog Bobèches mit Graf Oscar nach dem Abgang des Hofschranzen-Chores (Nr. 10a), in dem die Staatsgeschäfte abgehandelt werden. Bobèche verlangt einen großen Globus (›Um zu regieren, braucht man Übersicht!‹). In der folgenden Erörterung der außenpolitischen Lage mit Ritter Blaubart wird aus der Szene mit dem Globus geradezu eine Reminiszenz an die berühmte Szene in Chaplins Film ›Der große Diktator‹. In Rage springt Bobèche auf den Globus, seine Diktion ähnelt immer mehr derjenigen Hitlers. Diese Parodie Hitlers bewirkt nicht nur distanzierendes Vergnügen, sondern ist auch schauerlich, das parodistisch Gemeinte macht gleichzeitig ernst. Ernst wird es dadurch, dass es einerseits überzeichnet ist und andererseits – gemessen an Hitlers Sprachgestus beispielsweise – keineswegs überzogen. Auch das Springen auf den Globus entsteht aus der Rage Bobèches. Bobèche auf dem Globus vereint gleichzeitig ein böse karikierendes Bild der ›Großen‹ mit einer glaubhaften Darstellung des Königs Bobèche. Die Deformation dieser machtdurchzogenen höfischen Welt – der lächerlich-zappelige Bewegungsduktus Bobèches, sein trocken-tonloser Sprachgestus (den Werner Enders bis in die Gesangsnummern hinein durchhält), die Buckel der Höflinge – all das ist parodistisches Mittel und ebenso bzw. genau darin glaubhafter Ausdruck der in der Welt dieses Hofes handelnden Personen.

Bobèche und Blaubart sind zwar verschieden, jedoch in ihrer Verschiedenheit einander unabdingbar. Ihre Verschiedenheit ist nicht prinzipieller Natur, der amoralisch aufbegehrende Libertìn braucht den spießbürgerlichen Bobèche, um sich zu unterscheiden.115

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vgl. dazu auch: Klotz, Volker: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst, München Piper, 1991, S. 528f.
Offenbach macht das am drohenden Krieg zwischen den beiden deutlich, der Kriegsgrund ist nämlich das Verschwinden der fünf Frauen Blaubarts.

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