- 107 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (106)Nächste Seite (108) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

(Theater-)Spieles zu betonen, indem er zwar noch harmlose, aber überdrehte Figuren etabliert. Im Bobèche-Bild geht er ein gehöriges Stück weiter. Die dort ebenfalls parodistisch überzeichneten Vorgänge verlieren durch das, was sie zeigen, ihren spielerischen Charakter, trotzdem sind die Figuren in zunehmenden Maße karikierend-überzeichnet dargestellt. Das gleiche Mittel, das im I. Akt die Künstlichkeit des Theaters und damit den distanziert rezipierenden Zuschauer hervorbringt, führt im Bobèche-Bild des II. Akts zum erschreckt an den Bühnenvorgängen teilnehmenden Zuschauer. Im Bild in Blaubarts Schloss wiederum nimmt der Zuschauer am Schicksal Boulottes Anteil – trotz der haarsträubend unglaubwürdigen Handlung. In diesem Bild, in dem man meinen könnte, eine parodistische Einlage würde die nächste jagen, macht Felsenstein vollends ernst und spielt ergreifendes Theater über den – vermeintlichen – Tod Boulottes, der Identifikationsfigur. Im Schlussbild dann löst Felsenstein die Künstlichkeit der Figuren, die der schon zu Beginn des I. Aktes etablierten Ebene des Spiels entsprang, auf. Boulotte beendet angesichts der Vorgänge (die Leichen in den Kellern der Mächtigen) das Spiel. Angesichts einer solchen Ernsthaftigkeit weiß Boulotte dann nur noch einen Ausweg – ›Nur im Theater gäbe es eine Lösung‹!

3.3.2.4 Ritter Blaubart – ein »für uns neuer Interpretationsstil«117
117
Felsenstein in einem Aushang vom 16.11.1963 an das Ensemble der Komischen Oper Berlin. S. Kobán, Ilse (Hrsg.): Walter Felsenstein – Theater muß immer etwas Totales sein, Henschelverlag Berlin 1986, S. 339

Was Felsenstein unter diesem ›neuen Interpretationsstil‹ versteht, wird unmittelbar anschaulich, wenn man Figuren und Handlungen betrachtet. Nicht die Tatsache, dass es sich um ›künstliche‹ Figuren handelt, spielt eine Rolle bezüglich der Darstellungsweise, die extremen Figuren in ›Hoffmanns Erzählungen‹ sind augenscheinlich nicht weniger ›künstlich‹ und ebenso sind Othello oder Jago nicht echter. Solche Betrachtungsweisen, die die Wahrscheinlichkeit einer Handlung als Kategorie ihrer Glaubwürdigkeit ausmachen und dabei als Kriterium für die Bühnenwirklichkeit nicht ihre spezifische Wirklichkeitsform als Kunst, sondern die Alltagswirklichkeit erheben, verpassen gerade die Spezifik von Darstellungsweisen. Das Besondere der Darstellung im Blaubart wird deutlich, wenn Felsenstein über Boulottes Reaktion im Finale schreibt:

»Wenn Boulotte die Frage stellt ›Hätten Popolani und Graf Oscar ihren blut’gen Auftrag ausgeführt, was wäre jetzt?‹, so ist der Höhepunkt ihres Vorhabens die für Blaubart und Bobèche vernichtende Enthüllung, aber auch der Höhepunkt der Bedrängnis für die beiden ›Verbrecher‹ beim Publikum erreicht. Blaubarts Antwort ›Ihr wäret tot‹ muß für das Publikum ebenso unerwartet kommen wie für Boulotte. Ihrer tiefen Bestürzung folgt die Erkenntnis, wie recht er hat. Ihre Wut und Enttäuschung läßt sie die Durchführung der Rolle vergessen und sich an das Publikum wenden: ›Die Großen haben wieder recht!‹ Sie gibt auf und macht die Darsteller der übrigen ›Zigeuner‹ ratlos.«118

118
ebd.

Die Figur Boulotte umfasst die Fähigkeit, die Gesetze der Blaubart-Handlung außer Kraft zu setzen, sie kann aus der Handlung aussteigen. Die Fähigkeit auszusteigen,


Erste Seite (i) Vorherige Seite (106)Nächste Seite (108) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 107 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch