- 144 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Alfred zusammen. Dazu singen jedoch Chor und Ensemble in pp beginnend und langsam crescendierend »Ja, nun berauscht Euch . . . « (Ziffer 10) auf monotonen Tonrepetitionen 20 (!) Takte lang. Dass nur Alfred und Violetta die Melodie des Trinkliedes singen und Chor sowie restliches Ensemble eine geradezu penetrant stupide Musik, verlangt nach einer szenischen Erklärung, einer dramatischen Absicht, die eine solche musikalische Konstruktion konkretisiert.

Die monotonen Tonrepetitionen und die dynamischen Gegensätze beinhalten für sich noch keinerlei szenische Aussage. Erst in den Mund einer solchen Gesellschaft gelegt, deren Interessen und Motive auf der Bühne konkret sichtbar werden, drückt die musikalische Monotonie und Stupidität das Innenleben dieser Gesellschaft treffend aus. Diese musikalischen Charakteristika des Chores halten gerade die Abwesenheit irgendeiner innerlichen Beteiligtheit fest, der gefühlskalte Voyeurismus der Pariser Lebewelt kommt eben dadurch musikalisch-klingend zum Ausdruck. Im monotonen Voranschreiten der Tonrepetitionen erklingt gerade keinerlei innere Anteilnahme an der vorhergehenden Verzauberung, sondern das aggressive Beharren, kalt und voyeuristisch der sonderbar beginnenden Liebesbeziehung zuzuschauen. Felsenstein nannte nicht umsonst diesen mit musikalischen Mitteln Extreme zeichnenden Chor den »Maschinengewehr-Chor«.

3.8.5.  Handlungsdramaturgische Begründung eines Zwischenspiels

Felsensteins These von der Partitur als Regiebuch bedeutet, dass Begründungen für sämtliche szenischen Verläufe, Ausdruckscharakteristika, etc. der Partitur zu entnehmen seien. Im Weiteren soll dargelegt werden, wie Felsensteins Stückanalyse der ›Traviata‹ diesem Grundsatz bezogen auf veschiedene musikalische Ausdrucksformen Geltung verschafft.

Im I. Akt gibt es ein Zwischenspiel von 16 Takten (Ziffer 4), zu der sich die Gäste an die Tische setzen. Felsenstein bemerkt dazu:

»In diesem Stück ist einem – wie Sie erfahren haben oder lesen können aus dem Auszug – kaum eine Sekunde Zeit gelassen, über etwas nachzudenken. So rasch geht das alles vor sich, so dicht ist das alles. Verdi liebt das in seinen Werken, uns nicht Schokolade fressen zu lassen im Parkett. [...] Aber auf einmal hat er Zeit. Auch darüber kann man nicht nur als Regisseur, sondern auch als Sänger oder Bühnenbildner doch nicht hinweggehen. Man kann doch nicht einfach warten, bis mein nächster Gesangseinsatz kommt. Es muss doch einen Grund geben, warum 16 Takte dazwischenliegen, bevor ich jetzt beipflichtend und begeistert den Satz wiederhole, den Violetta vorher gesungen hat [Chor und Ensemble wiederholen nach dem Zwischenspiel den Satz Violettas, den sie direkt vor dem Zwischenspiel sang]. Ich muss etwas finden, ich muss es begründen können.«215

215
ebd., S. 15

Auch hier sucht Felsenstein nach einer Begründung für die Musik, sie stellt für ihn keine Selbstverständlichkeit dar. Die gesuchte Begründung entnimmt er jedoch nicht einem Regieeinfall. Vielmehr ist diejenige szenische Aktion, die dieser Musik einen dramatischen Sinn verleiht, gesucht. Diese Aktion muss aus der Handlung entwickelt werden, weil die betreffende Musik sich eben der Handlung verdankt. Das


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