- 149 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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3.8.7.  Szenisch-musikalische Konstruktion als Ausdruck der dramaturgischen Grundidee

Dass die Entgegensetzung der Pariser Lebewelt zu Violettas Liebe dem dramaturgischen Grundzug der Oper von Verdi entspricht und nicht nur dem Konzept Felsensteins entspringt, muss sich, wenn Felsensteins These von der »musikalischen Handlung« zutrifft, in der Komposition niederschlagen. Weiterhin muss sich in musikalischen Verläufen nachzeichnen lassen, wie Violettas Liebe zu Alfred beginnt, denn diese beiden Vorgänge bilden die Bedingung für die Tragik der Violetta. Darüber gibt die musikalisch-szenische Konstruktion der Szene des Duetts Violettas und Alfreds Aufschluss.

Die szenische Situation stellt sich folgendermaßen dar: In einem hinteren Saal findet zum dort erklingenden Bühnenorchester, einer Banda, das festliche Treiben statt, während vorn Violetta wegen eines Schwächeanfalls und – von ihr unbemerkt – Alfred allein zurückbleiben. Dem festlichen Treiben ist eindeutig die Banda, das Bühnen-Blasorchester zuzuschreiben. Das Duett von Violetta und Alfred ist bis zu einem bestimmten Punkt, nämlich seinem arioso, nur vom Bühnenorchester, der Tanzmusik aus dem hinteren Saal, begleitet. Felsenstein skizziert minutiös den Verlauf des Gespräches, in dem sich Violetta in Alfred verliebt. Während in der Konversation Alfred sogar bei banalen Ratschlägen in Kantilenen schwelgt, unterhält sich Violetta wirklich mit ihm, sie singt nur kurze Einwürfe und keine großen Gesangslinien. Währenddessen erklingt nur das Bühnenorchester – Felsenstein nennt es die »Bumms-Musik« – und zwar bis zu dem Moment, in dem er im arioso seine Liebe gesteht:

»Und jetzt dieser beinahe unbeholfene bürgerliche Junge, der vielleicht einmal unbeholfene Gedichte gemacht hat, schon gar kein Sänger ist, beginnt mit einem Erguss von einer Zärtlichkeit und einer Poesie, um die ihn jeder Lyriker beneiden könnte. ›Seit einem Jahr schon...‹.«226

226
ebd., S. 33

Felsenstein markiert das arioso, verhalten beginnend, bei »wie ich es niemals gekannt« drängender, intensiver werdend, auf »gekannt« ein ›Intensitäts-crescendo‹ machend und schließlich »Zaub’rische Macht« innerlich glühend zurückgenommen. Felsenstein erläutert einleuchtend, dass zu dieser Liebeserklärung das Bühnenorchester, obwohl es nicht mehr erklingt, nicht aufhört zu spielen, das Fest im hinteren Saal geht weiter. Dass die Banda nicht mehr zu hören ist, bedeutet, dass sie und mit ihr das ganze festliche Treiben im Bewusstsein der Beiden ausgeblendet ist.

Das arioso ist deswegen so wichtig, weil es das Zentrum der Arie Violettas am Ende des I. Aktes bildet. Diese Worte müssen direkt in ihr Herz gedrungen sein und von ihr Besitz ergriffen haben. Felsenstein findet dafür eine bemerkenswerte szenische Lösung:

»[...] ich finde es notwendig und nicht willkürlich, dass in der Arie später, wo Violetta nicht aus einer launenhaften Erinnerung, sondern aus tiefstem Bedürfnis diese Arie Alfreds in sich singen hört und wiederholt, jetzt diesen Ort, wo er gesungen hat, was er getan hat, abtastet und die ganze Szene mit Alfred selbst wiederherstellt. Dass, was sie jetzt, während Alfred singt,


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