- 23 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Ein erotisch-liebendes Wesen wie Susanna ist von dem Antrag des Grafen außergewöhnlich berührt, deswegen zeigt ihre Treue eine um so stärkere ethische Gesinnung. Susanna als ein pures Sinnenwesen wäre frei, könnte nur gemäß ihrer jeweils aktuellen sinnlichen Bedürfnisse handeln, damit ihr Begehren befriedigt wird; eine solche Figur gäbe sich dem Grafen hin. Dass sie das nicht tut, beweist die Unabhänigkeit von ihrer Sinnlichkeit, ihr Handeln folgt nicht ihrem unmittelbaren sinnlichen Begehren. Sie ist als Mensch Vernunftwesen und kann sich deswegen trotz ihrer sinnlichen Affiziertheit durch den Grafen für die Ehe mit Figaro entscheiden. Hierdurch wird ihre Ehe mit Figaro aber nicht Pflichterfüllung, sondern, indem sie sittlich handelt, verwirklicht sie ihre eigentliche Bestimmtheit, ein treues, erotisch-liebendes »Weibwesen« zu sein. Ihre sinnliche Seite geht in ihrem sittlichen Handeln auf. Auch wenn die Verführungskünste des Grafen so manche sinnliche Freuden versprechen, so hat ihr eigentliches Wollen die Ehe mit Figaro zum Inhalt. Die Bildung einer moralischen Gesinnung gelangt zur Darstellung. Dadurch, dass sich die handelnden Personen eine moralischen Gesinnung zu eigen machen, verwirklichen sie »eine neue Stufe menschlicher Ethik und Moral«.

Mozarts ›Figaro‹ habe – laut Felsenstein – »die Beziehung des Menschlichen zum Göttlichen in Musik gesetzt«.34

34
ebd., S. 75
So stellt Felsenstein über die Susanna fest:

»Susanna hat wie auch andere Figuren Mozarts eine Reichweite über das bloß Menschliche hinaus, eine Antenne ins Göttliche, wobei man manchmal vor dem, was wir Moral nennen, erschrickt.«35

35
ebd., S. 76

Das Göttliche der Susanna-Figur bestehe, wie gezeigt, darin, nicht den durch den Verführungsversuch des Grafen affizierten Sinnen, dem »bloß Menschlichen« zu folgen, sondern in der Erfüllung ihrer Bestimmtheit als sittlich-sinnliches Wesen durch die Entscheidung für die Ehe mit Figaro. Das »bloß Menschliche« meint die Bestimmtheit des Menschen als Naturwesen, das »Göttliche« die Werte des klassischen Idealismus. Indem sich die Helden mit ihren Emotionen auseinandersetzen, erlangen sie den sittlich wertvollen Willen. Dieser Reifeprozess erhebt sie auf eine menschliche Stufe der Humanität, die das unmittelbare Wollen zugunsten des sittlichen Handelns überwindet.

2.1.3.  Felsensteins Realismus

Obwohl Felsenstein im allgemeinen als Mitbegründer eines realistischen Musiktheaters verstanden wird, bezog er zu solchen ästhetischen Fragestellungen selten explizit Position. In diesem Zusammenhang bildet Felsensteins praktisches Bemühen, dass »Irreale der Oper« verringern zu wollen, einen Kernpunkt seiner Ansichten. Angesichts des Spannungsfeldes, das zwischen der ›untatsächlichen‹ Oper und der Betonung der empirischen Wirklichkeit als normative Instanz – um im oben beschriebenen Sinne die einfühlende Teilnahme des Publikums an der Kunst zu bewirken – besteht, fordert er von der Oper, unbedingt glaubhaft, wahrhaftig und verständlich zu sein.


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