- 29 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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anschaubare Kunstwirklichkeit wird dieses Wesen für ein Publikum erkennbar, sie bringt das in den Erscheinungen des »Lebens« schwer erkennbare Wesen in der Kunst zur Darstellung. Wenn Kunst die Lebensverhältnisse der Menschen realistisch darstelle, würde der in ihnen wirkende »Geschichtsprozess« zur konkreten Anschauung gebracht werden. Die dargestellten Lebensverhältnisse beinhalteten gesellschaftliche Probleme, deren Lösung der Sozialismus sei. Kunst soll also belehren, ohne zu erklären. Hat die Kunst der Klassik den bürgerlichen moralischen Menschen im Auge, so zielt der Sozialistische Realismus auf den moralischen sozialistischen Menschen.

Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Felsensteins Auffassung und dem Sozialistischen Realismus ist die Forderung an die Kunst, volksnah zu sein. In seiner Rede zur Gorki – Feier 1953 betont Felsenstein dies:

»Seit Theater gespielt wird, war es darum bemüht, auf möglichst breite Volksschichten zu wirken, von ihnen verstanden zu werden und Erfolg zu haben. Wo diese Bemühung gelungen ist, war es realistisches Theater. [...] Realismus ist ein Inhalt, realistische Darstellung in weitestem Sinne die Verbundenheit unseres Tuns mit dem ganzen Volk.«54

54
ebd., S. 423

Unter dem Blickwinkel des Historischen Materialismus wäre Felsenstein in folgendem Sinne zu verstehen: Die Arbeiterklasse verwirklicht als revolutionäres Objekt den ›historischen Prozess‹ zum Sozialismus. Sie ist gewissermaßen beauftragt, das Telos von Geschichte zu verwirklichen. Kunst könne nur dann »auf möglichst breite Volksschichten gewirkt haben«, wenn sie deren Bewusstsein für die ›historische Aufgabe‹, revolutionäres Subjekt zu sein, bilde. Felsensteins Auffassungen sind in den »Sozialistischen Realismus« integrierbar, auch wenn Felsenstein dies nicht explizit oder nur äußerst zurückhaltend tat.

2.1.5.  Die Rezeption Felsensteins in der Ost- und Westdeutschen Kritik

Dass die Kunst Felsensteins auch im Westen höchste und fast einhellige Anerkennung finden konnte, hat seinen Grund darin, dass sie auf den klassischen Idealen des Humanismus gründete. Unter diesem Blickwinkel begutachtet die westdeutsche Kritik Felsensteins Arbeiten, während der Anspruch, dass die Tendenz des historischen Prozesses zum Sozialismus, der als Verwirklichung eben der gleichen Ideale von Humanität verstanden wurde, der Kunst zu entnehmen sein muss, sich in der ostdeutschen Rezeption von Felsensteins Werk widerspiegelt. Eine vergleichende Analyse der Rezeption ost- und westdeutscher Kritiker soll nun aufzeigen, wie deutlich das Verständnis von Felsensteins Kunst von der politisch motivierten Herangehensweise geprägt ist. Als Beispiel sollen die Besprechungen von Felsensteins ›Rigoletto‹-Inszenierung im Jahre 1962 an der Hamburgischen Staatsoper dienen.

Der Standpunkt der ostdeutschen Rezeption ergibt sich aus den oben schon dargestellten Ansprüchen der normativen Ästhetik des Sozialistischen Realismus. Die historisch überkommene Gesellschaft des Feudalismus, in der ›Rigoletto‹ spielt, müsse in ihrer Inhumanität dargestellt werden.


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