- 41 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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2.2.4.  Brecht

Brecht dagegen fordert statt des illusionistischen Bühnenerlebnisses, das den Zuschauer suggestiv und gefühlsmäßig ergreift, indem er Theatervorgänge einfühlend rezipiert, ein demonstrierendes Theater. Die auf der Bühne dargestellten Vorgänge soll der Zuschauer beurteilen. Nicht die Metamorphose im Theatererlebnis, sondern das genaue Gegenteil beabsichtigt Brecht. Die Bühnenhandlung soll dem Zuschauer gegenübertreten, er soll durch rationale Einsicht eine kritische Haltung einnehmen. Deswegen verlangt Brecht eine Darstellung, in der Dargestelltes und Darsteller gerade nicht zusammenfallen:

»[...] der Schauspieler muß Demonstrant bleiben; er muß den Demonstrierten als eine fremde Person wiedergeben [...]. Er vergißt nie und gestattet nie zu vergessen, daß er nicht der Demonstrierte, sondern der Demonstrant ist.«81

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Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Werkausgabe edition suhrkamp. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zsarb. Mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt/Main, 1967; Werke XVI, S. 553

Der Schauspieler soll den Zuschauer nicht vergessen lassen, dass er schauspielt. Dazu soll er die Realität dessen, was er darstellt, auf einer zweiten, oft kommentierenden Ebene durchbrechen, er soll die Vorgänge verfremdet darstellen.

»Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.«82

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Brecht, Werke XV, S. 301

Zweck dieser Verfremdung soll eine aufklärerische Wirkung auf den Zuschauer sein. Das Aufklärerische bestehe darin, dass eine verfremdend dargestellte Handlung vom Zuschauer nicht mehr als notwendig so angesehen wird, wie sie erscheint. Ihre Veränderbarkeit soll dadurch, dass sie verfremdet wurde, für den Zuschauer in den Mittelpunkt rücken. Durch den Verfremdungseffekt stehe die betreffende Handlung gewissermaßen zur Disposition. Wenn dem Zuschauer die Veränderbarkeit von Handlungen bzw. Zuständen auf dem Theater bewiesen wird, so wird er – nach Brechts Auffassung – die erwünschten83

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Selbstredend ist hier von Brechts Wünschen die Rede. Dass das Publikum ›eigentlich‹ Brechts Ansichten über die Wirklichkeit teilt, unterstellt Brecht. Etwaige Gründe dafür, den Kapitalismus als die historisch zu überwindende Gesellschaftsform anzusehen, nahm Brecht dabei weniger in den Blick als die kritische Haltung des Publikums getrennt von jedem konkreten Gegenstand. Aus ihr würde dann gewissermaßen automatisch revolutionäre Praxis folgen, denn was die kritische Haltung bisher verhindere, sei die Vertrautheit der gesellschaftlichen Zustände.
Veränderungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durchsetzen.84
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Vgl. Brecht, Werke XVI, S. 681: »Die neuen Verfremdungen sollten nur den gesellschaftlich beeinflußbaren Vorgängen den Stempel des Vertrauten wegnehmen, der sie heute vor dem Eingriff bewahrt.« Brecht vergleicht hier die Wirkung der V-Effekte seines epischen Theaters mit V-Effekten aus anderen Theaterformen.

Brecht identifiziert dabei beim ›bisherigen‹ Publikum dessen (passives) Verhalten im Theater und das im Leben. So lässt Brecht im ›Messingknauf‹ den Philosophen folgendes zum Dramaturgen sagen:


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