- 43 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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marxistischen Gesellschaftsveränderung bedürfe es einer sozialistischen Kunst, da erst im Sozialismus die Verwirklichung der humanistischen Ideale beginne.90
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vgl. dazu ausführlich: Kobel, Jan, S. 113–144

2.2.5.  Walter Felsenstein und Bertolt Brecht. Ein Vergleich

Ein Vergleich von Felsenstein und Brecht ergibt, dass sie in ihren Theatertheorien gegensätzliche Auffassungen vertreten. Wo der eine Distanz fordert, strebt der andere nach Identität. Während Felsenstein das ›echte Theatererlebnis‹ fordert, in dem Darstellung und Zuschauer aufhören, getrennt zu existieren und im gemeinsamen Spiel aufgehen sollen, stellt Brecht die Bühnenhandlung seinem Zuschauer entgegen: Zweck ist es, gerade eine Distanz zum Dargestellten zu erzielen, damit der Zuschauer, sich seiner Freiheit bewusst geworden, gesellschaftliche Veränderungen bewirkt.

Bezüglich des schauspieltechnischen Prinzips der die Glaubwürdigkeit der Darstellung verbürgenden Einfühlung scheinen beide Positionen weitaus weniger gegensätzlich. Denn Felsensteins Kategorie der Glaubwürdigkeit bezieht sich ausschließlich auf die Bühnenrealisation, die sich dem jeweiligen Stück zu verpflichten habe. Sollten Rollen verfremdend im Stück angelegt sein, so würde Felsenstein sie auch ebenso inszenieren – wie er dies in seiner Blaubart-Inszenierung auch tat. Dass eine solche Darstellung einfühlend gespielt werden kann, liegt auf der Hand. Im Fall einer verfremdenden Rolle beinhaltet die Rolle eben die schauspielerisch dazustellende Distanz zum Dargestellten.

Das schauspieltechnische Prinzip der Einfühlung legt an die Verwirklichung einer Bühnenfigur auf dem Theater das Kriterium der Glaubwürdigkeit an. Begegnet dem Zuschauer in der realisierten Bühnenfigur nichts ihr Fremdes, so hat der Darsteller erreicht, mit der Bühnenfigur, während sie durch ihn verlebendigt wurde, zusammenzufallen: Der Zuschauer hält diese Darstellung für glaubwürdig. Insofern impliziert die schauspieltechnische Entscheidung für eine Methode der Einfühlung keinerlei theaterästhetische Positionen, denn die Kriterien der Glaubwürdigkeit sind den Bühnenfiguren selbst entnommen. Das Spezifikum ihrer Realität besteht darin, einer Spielverabredung zu entspringen. Sie gehorchen den jeweiligen Intentionen eines Autors oder Darstellers. Falls diese Intentionen eine extreme Abweichung von wirklichen Phänomenen beinhalten, lautet die Frage, ob diese Abweichungen innerhalb ihrer dargestellten Welt glaubwürdig sind.

Das epische Theater Brechts verlangt – mitunter – von seinem Darsteller, sich kommentierend zu seiner Rolle zu verhalten, also vermeintlich gerade nicht mit ihr zusammenzufallen. Die schauspieltechnische Aufgabenstellung an den Darsteller lautet dann, zwei Standpunkte darzustellen, den der Rolle und den des Kommentares. Er wird sich beiden Standpunkten einfühlend annähern müssen, um sie glaubhaft zur Darstellung bringen zu können. Die betreffende Rolle umfasst die darzustellende Figur und denjenigen, der sie kommentiert.

Brecht setzte sich selbstverständlich auch theatertheoretisch ausführlich mit dem Begriff der Einfühlung auseinander. Einerseits polemisiert er grundsätzlich gegen die Einfühlung. Sie stellt für ihn den Inbegriff des von ihm aristotelisch genannten Theaters dar, in dem der Zuschauer sich passiv seiner Erbauung hingibt. Als


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