- 45 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Der prinzipielle Unterschied zwischen der schauspielmethodischen und der theaterästhetischen Dimension dieses Begriffes stellte sich dabei als wesentlich heraus. Unter dem schauspielmethodischen Aspekt zeigte sich, dass Einfühlung aufgrund des Wesenszuges von Theaterarbeit, dass sich der Darsteller in eine Figur verwandelt, den Positionen von Felsenstein und Brecht gleichermaßen innnewohnt. Die theaterästhetische Dimension der Einfühlung wurde einsortiert als eine des Zuschauers. Dabei wurde offengelegt, dass es eine Chimäre ist, diesen Akt mit der Darstellungsform auf der Bühne zu begründen. Vielmehr trifft eine gelungene Theateraufführung auf die Entscheidung des Zuschauers, der Handlung mitfühlend zu folgen. Dass sowohl der mitfühlende Zuschauer Felsensteins sich dabei Handlungsoptionen im Sinne eines Bildungsprozesses erschließen kann, als auch sich beim Zuschauer Brechts eine aktivierte kritische Haltung bilden kann, lässt den Schluss darauf zu, dass sich in der wirkungsästhetischen Absicht beide Theatermacher einig waren.

2.3.  Felsensteins Probenarbeit mit dem Sänger-Darsteller

Im Folgenden soll dargestellt werden, wie Felsenstein die Identität von Darsteller und Figur zu erzielen versuchte. Der dazu einzuschlagende Weg beginne bei der Persönlichkeit des Darstellers. Dessen innerer Zustand solle mit dem der darzustellenden Figur im Laufe der Probenarbeit immer mehr zusammenfallen.

Felsenstein erkennt die besondere Schwierigkeit, die dieses Postulat auf dem Feld des Musiktheaters mit sich bringt. Dass die höchst artifizielle Benutzung der Stimmfunktionen nur als Ausdrucksmittel dienen soll,95

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Auch wenn Felsenstein betont, dass der Unterschied zwischen Sprache und Gesang nur ein gradueller sei (vgl. Felsenstein, Schriften 491), so kommt es doch in der praktischen Verwirklichung auf diesen Unterschied an, denn Gesang unterscheidet sich von den alltäglichen Stimmfunktionen erheblich mehr, als es das Bühnensprechen tut.
stellt ein grundsätzliches Problem der Probenarbeit dar. Felsenstein spricht in diesem Zusammenhang von der funktionellen Spaltung des Sänger-Darstellers. Die gesangstechnischen Anforderungen einer Partie hindern den Sänger daran, zu erkennen, dass der Gesangspart das Darstellungsmittel ist, um die Figur zu realisieren. Darstellungen, die dies nicht vergegenwärtigen, blieben im Dualismus von Musik und Theater befangen. Der Anspruch an Musiktheater besteht darin, diesen Dualismus zu überwinden und Gesang zum wesentlichen theatralischen Darstellungsmittel werden zu lassen.

Felsenstein bezieht seinen aus dem Musiktheater abgeleiteten Anspruch an den Darsteller nicht nur auf seinen Gesangspart, sondern auch auf den Orchesterpart. Wenn der Darsteller jeglichen musikalischen Vorgang – auch den Orchesterpart – durch sein Bühnenhandeln veranlassen soll, hat dies weitreichende Konsequenzen für seine Arbeit. Es muss auch jeglicher musikalische Vorgang in seine Rollenanalyse einbezogen werden. Darüber hinaus hat dieses Postulat jedoch auch Konsequenzen für die erforderliche Disposition des Sängers in der praktischen Probenarbeit. Sich in die extremen Zustände, die singend auszudrücken sind, einzufühlen, stellt gerade aufgrund der musikalischen Bestimmtheit dieser Zustände eine doppelte Schwierigkeit dar. Diese Zustände sind der Normalität, in der wir uns bewegen und auf die


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