- 73 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Und dann?« Der einen halben Takt lange (!), tiefe Streicher-Klang im pppp, das liegende c, repräsentiert Jagos Grauen vor der von ihm selbst gestellten Frage. Das Ges-Dur seiner Antwort lässt seinen Triumph über die Angst erklingen, die ihm die Frage macht. So betrachtet ist Götz Friedrichs Rede von Jagos »Grauen vor der Untat«55
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Friedrich, Götz: »Vom Lauf der Zeiten unberührt« in: Programmheft der Komischen Oper Berlin zur Othello-Inszenierung von 1959
durchaus einsichtig, nur ist dabei zu unterstellen, dass diese Musik psycholgisch zu begründen ist.

In dem vorgeführten Vergleich mit einer anderen Sicht geht es nicht darum, zu entscheiden, wie die Szene darzustellen sei, sondern darum, den Unterschied zu beleuchten, den die Verschiedenheit dieser Konzeptionen ausmacht. Die Monstrosität des Prinzips des Bösen als übergeschichtliche Instanz ist etwas anderes, als die Monstrosität, zu der es ein in der Karriere übergangener Soldat bringt, jemand, der in einer ständischen Gesellschaft als ›besserer Mann‹ dem höher geborenen Cassio unterliegt und Gott und die Welt für sein ungerechtes Scheitern anklagt.

Dass Felsenstein sich für den zweiten Standpunkt entscheidet, verdankt sich seiner Theaterauffassung, die Musik im Theater als Handlung versteht. Als Handlung braucht sie jemanden, der handelt, sie muss durch die Darstellung personalisiert werden, also einer Figur als Ausdrucksmittel angehören. Dann erst kann der Zuschauer dem Schicksal der Figur anteilnehmend folgen. Selbstverständlich fußt seine Theaterauffassung in den ethischen Zwecken eines klassisch-humanistischen Theaters, das den ergriffenen Zuschauer anstrebt, um ihn zu erziehen.

3.2.3.  Jagos Intrige in seiner musikalisch-szenischen Darstellung (II. Akt, 3. und 5. Szene)

Jago versucht in dieser Szene, Othellos Eifersucht zu entfachen, um Othello zu vernichten und sich so dafür zu rächen, dass er bei einer Beförderung übergangen wurde. Aus dem direkt vorhergehenden ›Credo‹ geht Jagos Bösartigkeit klar hervor, dem Zuschauer ist bewusst, dass Jago eine Intrige spinnt. Keineswegs verrät uns die Musik der III. Szene diese abgründige Ebene, im Gegenteil: sie folgt der vordergründigen Harmlosigkeit, mit der Jago seinen Plan verfolgt. Gerade dadurch entfaltet sie ihre Wirkung: Die süßliche Musik wird durch den Gegensatz zur sichtbaren Handlung beredt, sie empfindet so die Scheinheiligkeit Jagos nach. Dieser Gegensatz taucht für den Zuschauer auf zweierlei Arten auf. Erstens weiß er nämlich um Jagos Plan, erkennt also Jagos Falschheit und zweitens sieht er die Wirkung des Planes auf Othello. So trifft die Harmlosigkeit der Musik den teuflischen Charakter Jagos. Dementsprechend führt Felsenstein die Figuren. Jago betont nicht seine intriganten Absichten, sondern ist – stückimmanent – ein um so besserer Schauspieler, je weniger man seine Absichten sieht. Allein Othellos sich steigernde innere Erregung, die dem von Jago genährten Verdacht entspringt, Desdemona sei untreu, zeigt, wie gut Jagos Plan funktioniert.

In diesem ersten Teil der Szene finden kaum nennenswerte szenische Aktionen statt. Das innere Tempo56

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Am Beispiel des ersten Tamino-Auftrittes erläutert Felsenstein, was es mit dem »inneren Tempo« auf sich hat und wie der Darsteller es findet: »Es ist entscheidend für die Arbeit eines Sängers, ob er das metrische Tempo eines Werkes spürt und begreift. Unter metrischem Tempo verstehe ich die Unterteilung einer Phrase, eines Taktes im Sinne der emotionalen, der geistigen Darstellung auf den in diesem Takt vorkommenden kleinsten Notenwert. Nehmen wir diesen Anfang: »Zu Hilfe, zu Hilfe, sonst bin ich verloren!« Wenn ich einen eminent begabten Sänger habe, lasse ich ihn das in Sechzehnteln singen. Ich bin aber schon zufrieden, wenn er es in Achteln »schafft«. Das ist das innere Tempo.« Felsenstein, Schriften, S. 105
bei der Ausführung der szenischen Verrichtungen ist

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