- 87 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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braucht es das Genie. Das Groteske der Figur des studiosus besteht in seiner Verblendung, in einer Puppe ein wahres Gefühl wiederzufinden. Grund dieser Verblendung ist die Brille, die im Kontext des Reflexionsprozesses des Dichters Hoffmann nur eine Metapher für seine blinde Verliebtheit in die Primadonna Stella ist, deren leere Virtuosität ironisch in der Figur der Olympia gespiegelt wird.

Der Blick des studiosus durch eine Brille lässt ihn eine Puppe für ein beseeltes Geschöpf halten. Keineswegs ist dies die Weltsicht des romantischen Dichters, der dem »Gemeinen einen hohen Sinn« (Novalis) durch seine Kunstwerke gibt. Die Poetisierung der Welt zielt gerade nicht darauf ab, das Tote für lebendig zu halten, sondern in der Normalität den Zauber zu entdecken und durch die Kunst zu entfalten.

Dass der studiosus seelenlose Virtuosität mit beseelter Kunst verwechselt, spiegelt sich wiederum im Musikalischen wieder. Olympia singt eine stilisierte Koloratur-Arie, der ›Oberflächlichkeit‹ des Rokoko verhaftet,83

83
vgl. Döhring, Sieghart: »Zur dramaturgischen Konzeption von Offenbachs »Les Contes d’Hoffmann«« in: Brandstetter, Gabriele (Hrsg.) »Jacques Offenbachs Hoffmanns Erzählungen«, Laaber-Verlag 1988, S. 295
die der studiosus Hoffmann für »engelsgleichen Gesang« hält. Die Musik fungiert als klingendes Bild für die Beschränktheit der (spieß-) bürgerlichen Gesellschaft und damit verknüpft für die Beschränktheit des Künstlers Hoffmann, der durch seine im Virtuosentum Stellas begründete Liebe sich selbst die Brille aufsetzt, die ihn daran hindert, wahrer Künstler zu sein. Diesen Inhalt setzt Felsenstein konsequent um, wenn er in der Olympia-Arie abwechselnd die geifernde Festgesellschaft, die Puppe Olympia und den mit seiner Wunderbrille angesichts der ihn umgebenden Wirklichkeit lächerlichen studiosus zeigt.

Wie konsequent Felsenstein den konzeptionellen Grundgedanken, dass es sich beim Olympia-Akt – wie beim III. und IV. Akt auch – um Phantasiegeschöpfe des Künstlers Hoffmann handelt, mit denen er seine Künstlerbiografie reflektiert, zeigt sich am Aktschluss. Nach der Erkenntnis des studiosus, dass es sich bei Olympia um eine Puppe handelt, bricht dieser zusammen und wird nicht mehr gezeigt. In der Szene des Schluss-Ensembles mit Chor, die sich eigentlich anbieten würde, den zerstörten studiosus zu zeigen, zeigt Felsenstein ausschließlich die pervertierte Gesellschaft: die die Puppe zerreissenden Spalanzani und Coppelius und den geifernden Spottchor der Festgesellschaft. Mit der Erkenntnis über die wahre Natur Olympias existiert die Figur des studiosus nicht mehr, wir sehen Hoffmann erst wieder in Luthers Keller. Der Szenenwechsel ist durch eine Überblendung vom in Stücke zerborstenen Kopf Olympias, den Coppelius aus Enttäuschung auf den Boden schleuderte, zu den Scherben eines Punschtopfes, den Hoffmann am Ende seiner Erzählung hingeworfen haben muss, gelöst. Nicht das Schicksal des studiosus, sondern der künstlerische Reflexionsprozess Hoffmanns interessiert am Olympia-Akt.

3.3.1.4 Antonia-Akt

Felsenstein zeigt in diesem Akt das Scheitern des privaten Glücks Hoffmanns und Antonias an ihrer künstlerischen Ambition. Erst diese Konzeption erklärt die Handlung, erst sie begründet sämtliche Musiknummern, weil eben diese Musiknummern


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