1 Einleitung Pierre Schaeffer stellte in Texten über die Entstehungszeit der musique concrète, so-wie der seriellen Kompositionstechniken Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts fest,dass sich die musikkulturelle Struktur der Gesellschaft mit Aufkommen und Ver-breitung der Reproduktionsmedien an der Schwelle einer medialen Zäsur befand und sich in entscheidenden Punkten, etwa der Beziehung Komponist/Interpret/Publikum, oder im Bereich der Notation, änderte. Dazu gehörte auch, dass das Kon-zept des Musikinstruments in Frage gestellt wurde,1 es war gewissermaßen » ver-schwunden « und musste in kultureller Praxis neu konzipiert und wiederentdeckt werden. Die ubiquitäre Verbreitung des Computers und mit ihm diejenige der Soft-ware als Zeichen eines weiteren, umfassenden Medienwandels stellt uns vor ganz ähnliche Fragestellungen und Probleme. Alle Schritte im Bereich der Musikproduk-tion sind von Virtualisierung betroffen und unterliegen diversen Transformations-prozessen, auch das Instrument selbst scheint zwischen den Software-Synthesizern,Sound Samplern, virtuellen Instrumenten, Digital Audio Workstations und den ver-schiedensten Controllern und Interfaces gewissermaßen zu verschwinden: eine In-strumentenkunde der Computergesellschaft steht offenbar noch aus. Diese Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, die verschiedenen Anwendungsformen digitaler Virtuali-tät im Kontext computerbasierter Musikproduktion zu untersuchen und so einen Ausblick darauf zu ermöglichen, wie eine solche Instrumentenkunde durchgeführt werden könnte.Allein der Begriff » virtuelles Instrument « zeigt, dass aktuelle Instrumentenkunde gleichzeitig auch Medientheorie ist. Die Konsequenz dieser Feststellung: Wenn virtuelle Instrumente verstanden werden sollen, muss die virtuelle Realität verstanden werden.Wenn jedoch die virtuelle Realität verstanden werden soll, diesen Hinweis liefert Vilém Flusser, muss zuvor verstanden werden, was mit » Wirklichkeit « gemeint ist.2 Eine Theorie derVirtualität oder der virtuellen Realität schließt die Frage nach der Realität oder der Wirklichkeit, und damit einen Jahrtausende andauernden Diskurs,immer schon ein. Es wird überdies schnell deutlich, dass die Verknüpfung zweier philosophiegeschichtlich aufgeladener Begriffe – auch der Begriff » virtuell « ist keine Er1ndung des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts – de1nitorische Probleme verursacht: von Bezeichnungen, die aus der Computerindustrie (virtual reality/ vir-tuelle Realität) oder der Science-Fiction Literatur stammen (Cyberspace), ist zu-nächst keine Zirkelfreiheit zu erwarten. Ausgehend von dieser Feststellung kann es andererseits aber auch nicht um eine schlichte Aufstellung von alternativen Begriff-lichkeiten gehen, deren Durchsetzung letztlich – wie es beispielsweise Claude Ca-doz bereits zeitgleich mit seinem Alternativvorschlag zur virtuellen Realität fest-1 Schaeffer 1974: 29.2 Flusser 1993: 66.