36 Beobachtungen der Realität – vom Konstruktivismus zur Medientheorie Wir neigen dazu, in einer Welt von Gewißheit, von unbestreitbarer Stichhaltig-keit der Wahrnehmung zu leben, in der unsere Überzeugungen beweisen, daß die Dinge nur so sind, wie wir sie sehen. Was uns gewiß erscheint, kann keine Alternative haben. In unserem Alltag, unter unseren kulturellen Bedingungen,ist dies die übliche Art, Mensch zu sein.1 Der wissenschaftlich-technische Fortschritt trägt dazu seinen Teil bei. Wir lernen im-mer mehr über die Welt, neue Methoden der Forschung liefern neue Daten und Fak-ten, ein mehr an Wissen bringt uns Stück für Stück zu umfassenderen, treffenderen,letztlich wahren Theorien. Dieses Denken jedenfalls unterstellt Ernst von Glasersfeld der modernen Wissensgesellschaft:Wir reisen um die Erde, über Wasser, unter Wasser und durch die Luft und fie-gen sogar auf den Mond; wir hören und sehen fern, wir rechnen elektronisch,spalten Atome und sind gerade dabei, zu lernen, die Gene der Vererbung um-zubauen. Was wunder also, wenn die modernen Wagner sagen: Heute wissen wir viel, morgen alles!2 Diese Arbeit versucht eine nicht-repräsentationalistische, nicht-ontologische Annä-herung an virtuelle Realitäten. Sie geht davon aus, dass die Anerkennung der » Rea-lität « virtueller Räume und Objekte nicht mit Erkenntnistheorien einhergehen kann,die in dualistischer Weise Wahrnehmung als mehr oder weniger zutreffenden Ab-bildungsmechanismus für ontologische Tatsachen versteht. Der derzeit populärste Versuch einer nicht-ontologischen Erkenntnistheorie der letzten Jahrzehnte ist der » Radikale Konstruktivismus « . Zweifel am Ideal realistischer Erkenntnis sind in den Geistes- und Naturwissenschaften jedoch bekannterweise kein Novum, auch wenn sie in der Musikwissenschaft, möglicherweise auch in der Medienwissenschaft,3 erst verzögert aufkommen. Die Anzweifung objektiver Erkenntnis beginnt bereits mit Platons dualistischen Konzeptionen von Alltagserfahrung und dahinter liegender Wahrheit (wie etwa im berühmten Höhlengleichnis). Konstruktivismus wiederum steht, so bemerkt auch Ernst von Glasersfeld als Hauptvertreter des Radikalen Kon-struktivismus, in der Tradition dieses Idealismus und Skeptizismus. Für Niklas Luhmann läuft der Konstruktivismus Gefahr, in seinen Aussagen nicht über diese hinaus zu kommen. Soweit der Konstruktivismus nichts anderes behauptet als die Unzulänglich-keit der Außenwelt » an sich « und das Eingeschlossensein des Erkennens, ohne damit dem alten (skeptischen oder » solipsistischen « ) Zweifel zu verfallen, ob es eine Außenwelt überhaupt gibt – insoweit bringt er nichts Neues.4 1 Maturana 1987: 20.2 Glasersfeld 2006: 13.3 Weber 2003: 180.4 Luhmann 2005: 33.