3.4 Humberto Maturana 65 Francisco Varela und ich haben solche Systeme » autopoietische Systeme « und ihre Organisation » autopoietische Organisation « genannt. Ein lebendes System ist ein autopoietisches System im physikalischen Raum (cf. Maturana und Va-rela 1975).85 Autopoiese muss also zunächst nur auf molekularer oder zellulärer Basis, als rein biologisches, nicht als psychologisches oder soziologisches Phänomen, gedacht wer-den. Eine Übertragung in andere Wissenschaftsbereiche hat, wie angedeutet, zwar stattgefunden, ist aber im » Kernkonzept « zunächst nicht enthalten. Dies wird auch im nächsten Zitat deutlich, in dem die Autopoiese in der kürzest möglichen Form dargestellt wird:Unser Vorschlag ist, daß Lebewesen sich dadurch charakterisieren, daß sie sich – buchstäblich – andauernd selbst erzeugen. Darauf beziehen wir uns, wenn wir die sie de1nierende Organisation autopoietische Organisation nennen (griech. autos = selbst; poiein = machen).86 Dieser Vorschlag ist zunächst eine rein physikalisch-molekulare oder eine biolo-gisch-operationale Feststellung. Eine kleine autopoietische Einheit innerhalb einer größeren (dem Organismus) ist die Körperzelle. An ihrem Beispiel wird deutlich,was die drei im ersten Zitat genannten Kriterien bedeuten.Auch Zellen sind autopoietische Systeme. Ihre molekularen Bestandteile müs-sen miteinander in Interaktion treten, d. h., sie müssen zu einem dynamischen Netzwerk kontinuierlicher Wechselwirkungen verbunden sein. Dieser Prozess wird allgemein als Zellstoffwechsel bezeichnet. Ein Charakteristikum dieser Art biochemischer Prozesse ist nun, dass dieses Netzwerk von Interaktionen eine Membran – die Zellwand – bildet, die zu einer Innen-außen-Unterschei-dung führt. Doch diese Membran ist nicht das Produkt (das hergestellte Ob-jekt) irgendeines davon abgetrennten, schöpferischen Prozesses (des Stoff-wechsels), sondern es ist ein integraler Bestandteil des Prozesses. Der Rand des Prozesses (die Membran) wird durch die Dynamik (den Prozess) gebildet, den er/sie (den Rand/die Membran) begrenzt. Doch ohne diese Begrenzung könn-te die Dynamik nicht statt1nden.87 Eine Zelle ist eine autopoietische Einheit, die ihre Grenze selbst herstellt, diese Grenze muss von ihr selbst gezogen werden, damit sie als Einheit überhaupt existie-ren kann: die Bestandteile der Zelle produzieren die Membran, um die Organisa-tionsform der Zelle zu erhalten, autopoietische Systeme ziehen ihre eigenen Gren-zen, indem sie funktionieren, indem sie existieren. Zellen werden von Maturana als autopoietische Systeme erster Ordnung bezeichnet (man könnte sie auch streng auto-poietisch nennen). Es gibt autopoietische Systeme zweiter Ordnung, Organismen 85 Maturana 1987: 94 f.86 Maturana/Varela 2005: 50 f.87 Simon 2006: 33.