68 Beobachtungen der Realität – vom Konstruktivismus zur Medientheorie verstanden werden können. Diese Störungen sind nicht informativ und können in-sofern auch nicht als Input verstanden werden. Relationen relativer neuronaler Ak-tivität folgen auf andere Relationen relativer neuronaler Aktivität, nicht auf Außen-reize. Hier wird besonders deutlich, wie sehr Maturanas und Varelas Konzeptionen des Nervensystems von herkömmlichen Auffassungen abweichen. Wie ein System auf Perturbation, auf Kontakt mit dem Milieu reagiert, wird nicht durch diese Per -turbationen, sondern allein durch die Beschaffenheit des Systems bestimmt.Maturana entwickelte diese Konzeptionen aufgrund von Untersuchungen zur Farbwahrnehmung bei Tieren. Er versuchte, Zusammenhänge zwischen den Aktivi-täten retinaler Ganglienzellen (den Lichtrezeptoren nachgeschalteten Nervenzellen)und den Versuchstieren dargebotenen » Farben « herzustellen (Farbe versteht sich hier zunächst als bloße spektrale Zusammensetzung). Nach dem allgemeinen Ver-ständnis von Wahrnehmungsprozessen müsste es eine derartige Korrelation geben.Eine bestimmte Wellenlänge im sichtbaren Bereich trifft auf die Netzhaut, die Sin-nesrezeptoren und anschließende retinale Ganglienzellen erzeugen eine charakteris-tische Verschaltung, ein Muster, dass dann im Gehirn zur Wahrnehmung eines be-stimmten Farbtons führt. Ein solcher Zusammenhang zwischen rezeptiven Feldern und bestimmten Lichtspektren ließ sich in den genannten Versuchen aber nicht nachweisen, Maturana musste sein Konzept abändern. In Folge ging er der Frage nach, ob die Aktivität der Ganglienzellen mit den Namen der Farben in Zusammen-hang zu bringen war (so genannte Farbtäuschungen zeigen bereits eindrucksvoll,dass zwischen spektraler Zusammensetzung des Lichts und der Wahrnehmung ei-ner benennbaren Farbe keine unerschütterliche Verbindung besteht).Es musste also gezeigt werden, ob in der Retina die der Farbwahrnehmung entsprechenden Nervenzellaktivitäten zu 1nden sind, ob man also diese Akti-vitäten nachweisen kann, wenn man eine spezielle Wahrnehmung stets mit demselben Farbnamen bezeichnet. Das konnte ich tatsächlich nachweisen, zu-mindest theoretisch, nicht jedoch experimentell.93 Dabei gibt Maturana selbst an, dass sich seine Konzeptionen zur Geschlossenheit des Nervensystems nicht direkt aus seinen experimentellen Befunden ableiten las-sen.94 Seine Geschlossenheitsthese ist ausdrücklich keine empirisch fundierte Theo-rie.Aber als ich mir diese Frage stellte: » Kann die Aktivität der Ganglienzellen der Retina mit dem Namen, den der Beobachter der Farbe gibt, die er oder sie sieht, korreliert werden?« , stürzte meine ganze traditionelle Betrachtungsweise des Nervensystems in sich zusammen, und ich musste alles neu denken. Und im besonderen hatte ich neu zu denken: Was ist Erkenntnis?95 93 Riegas/Vetter 1990b: 13.94 Ebd.: 36.95 Maturana 2000a: 17.