74 Beobachtungen der Realität – vom Konstruktivismus zur Medientheorie Strukturelle Kopplung ist der stabilisierende Faktor, der es einem Beobachter er-möglicht, Verhalten einer strukturell gekoppelten Einheit als angepasst, als zutref-fend, als effektiv zu beschreiben. Übereinstimmung wird jedoch von innen herge-stellt und ist nicht das Resultat einer Information von außen. Dass unsere Sinnesor-gane dabei die Aufgabe haben, in eine – wie auch immer geartete – Korrespondenz mit dem Medium einzutreten, dürfte auch bei Maturana unbestritten sein. Um ein weiteres Mal das Beispiel der visuellen Wahrnehmung aufzugreifen, könnte man in Anlehnung an Maturana etwa sagen, die Augen dienten der strukturellen Kopplung mit dem Milieu, nicht der Informationsaufnahme. Obwohl alle Individuen einer Gesell-schaft durch phylogenetische und ontogenetische Kopplung ein mehr oder weniger stabiles Konstrukt ihrer Welt hergestellt haben, wird man niemals sagen können, ob diese stabilen Konstrukte nun auch tatsächlich übereinstimmen, denn alles, was sich über diese Konstrukte sagen lässt, ist, dass sie funktionieren. Ein Begriff von Wahr-heit, im Sinne einer zutreffenden Erkenntnis eines Dings, ist nur im Sinne einer ope-rationalen De1nition denkbar.Wenn Kognition das erfolgreiche Operieren eines lebenden System in einem Medium ist, und wenn dieses erfolgreiche Operieren in jedem Individuum das Ergebnis einer Geschichte phylogenetischer und ontogenetischer Kopplung darstellt, dann ist im Prinzip die Frage nach dem Funktionieren von Kognition beantwortet.111 In zwei Beispielen macht Maturana darauf aufmerksam, dass Kategorien unseres Denkens konstruierte Kategorien sind, die wir zunächst selbst de1nieren.Wenn ein Hund sich einen Schuh zum Spielen schnappt, kann ein Beobachter behaupten, der Hund kenne die Verwendungsweise eines Schuhs nicht. Eben-so kann ein Lehrer, der einen Studenten beauftragt, die Höhe eines Turms mit einem Höhenmesser zu ermitteln, den Studenten durchfallen lassen, wenn die-ser die Länge des Höhenmessers benutzt, um den Turm trigonometrisch zu messen, und so die Turmhöhe durch geometrische und nicht durch physikali -sche Verfahren gewinnt. Der Lehrer kann sagen, der Student verstehe nichts von Physik.112 Die De1nitionen der Dinge, die von den zwei Parteien der beiden Beispiele getrof-fen werden, unterscheiden sich. Dabei wertet ein Beobachter die Unterscheidungen der anderen Beobachter als falsch. Wahrheit und Falschheit sind demnach bloß Ka-tegorien, die von einem Beobachter durch Beobachten anderer Beobachter aufge-stellt werden.Der Hund hat ein Spielzeug de1niert und der Student ein geometrisches Pro-blem. Darum sind der Missbrauch des Hundes und der Fehler des Studenten ›Missbrauch‹ und ›Fehler‹ nur in den Bereichen, die der Beobachter und der 111 Ebd.: 107.112 Ebd.: 108.