76 Beobachtungen der Realität – vom Konstruktivismus zur Medientheorie mehr zum Thema und wurde – etwa auch von Niklas Luhmann – als eigentlicher Schöpfer der Theorie angesehen. Varelas wissenschaftliches Werk umfasst drei zu-nächst disparat erscheinende Arbeitsrichtungen. Sein Beitrag zur Prägung des Be-griffs » Autopoiese « in Zusammenarbeit mit Humberto Maturana (die in erster Hin-sicht eine Kennzeichnung lebender Systemen ist), seine kognitionswissenschaftli-chen Überlegungen sowie drittens seine außergewöhnlichen Theorien zum Immun-system,116 das für ihn eine Art » zweites Gehirn « darstellte. Wie Heinz von Foerster und Humberto Maturana ließ sich Varela ungern als Konstruktivist bezeichnen, Ein-füsse auf sein Werk liegen eher in der Phänomenologie Edmund Husserls oder Maurice Merleau-Pontys sowie dem Buddhismus. Varelas Epistemologie wird von ihm dabei als » Mittlerer Weg der Erkenntnis « 117 bezeichnet. Kognition ist kein Ab-bilden der Welt, sondern ein immer neues Hervorbringen einer Welt durch den Pro-zess des Lebens selbst (siehe Abschnitte Maturana). Dieser Prozess läuft jedoch nicht willkürlich ab, Varela und Maturana nutzten stets die Gelegenheit, sich gegen solipsistische Auslegungen ihrer Theorien zu verwehren. Bernhard Pörksen fasst Varelas Denken folgendermaßen zusammen:Er geht nicht von der Idee aus, der einzelne Mensch könne – blind und will -kürlich und ohne auf den Widerstand einer äußeren Welt und des Gegebenen zu treffen – seine eigene Realität er1nden. Aber auch der umgekehrte Gedan-ke, die Eigenkraft der Objektwelt zu sehr zu betonen, liegt ihm gleichermaßen fern: Was in einem Organismus geschieht, ist nicht durch die äußere Welt und das Gegebene determinierbar.118 Im Prozess des Hervorbringens einer Welt spielen Beobachter und Umwelt gleicher-maßen eine wichtige Rolle. Keine der beiden Seiten determiniert, was mit der ande-ren geschieht. Als Biologe betrachtet Varela hier nicht nur die Ontogenese eines In-dividuums, also die individuellen Mechanismen der Welthervorbringung, sondern auch jene phylogenetischen, stammesgeschichtlichen Entwicklungen, die unsere Er-kenntnis determinieren könnten.Die Bedeutung eines Objekts, seine Farbe oder seine Beschaffenheit emergieren nach langen Phasen der Kopplung zwischen dem Organismus und der Welt.Eine Farbe ist nicht das Ergebnis einer allein im Inneren des Organismus statt -1ndenden Konstruktion oder – dies wäre das andere Extrem – an sich existent und unabhängig von dem jeweiligen Lebewesen, das etwas wahrnimmt. Viel-mehr handelt es sich um stabile Qualitäten, die sich auf der Basis einer Ab-stammungsgeschichte erst herausbilden. Sie lassen sich weder eindeutig dem Erkennenden noch dem Erkannten, weder klar dem Subjekt noch dem Objekt zuordnen.119 116 Vgl. Varela 1993.117 Vgl. Varela/Thompson/Rosch 1995.118 Pörksen 2008: 113.119 Ebd.: 117.