3.6 Niklas Luhmann 81 So hat man seit langem gewusst, daß das Gehirn qualitativ gar keinen und quantitativ nur sehr geringen Kontakt mit der Außenwelt unterhält. Das ge-samte Nervensystem beobachtet ja nur die wechselnden Zustände des eigenen Organismus und nichts, was außerhalb statt1ndet. Alle von außen kommen-den Einwirkungen werden rein quantitativ codiert (Prinzip der undifferenzier-ten Codierung) und überdies spielt ihre Quantität, verglichen mit rein internen Verarbeitungsereignissen, nur eine ganz marginale Rolle.127 Hier lehnt sich Luhmann noch sehr eng an Maturana an, der sensorische Signalwe-ge zum Gehirn mit Blick auf die enorme Menge der Interneuronen als nur eine Stimme im Stimmengewirr des Gehirns bezeichnet hatte. Auch der Bezug zu von Foerster, im Zitat der Verweis auf das Prinzip der undifferenzierten Codierung,wird deutlich. Die große Zahl der Interneurone, die keinen direkten Kontakt zu Sin-nesorganen haben oder Muskeln innervieren, sondern lediglich » interne Verrech-nungen « durchführen, wird in der systemtheoretischen Literatur vielfach betont:Diese Eigenkomplexität des Gehirns zeigt sich schon rein quantitativ. Beim Menschen ist die Zahl der Nervenzellen, die rein systemintern tätig sind,weitaus größer als die Zahl der Nervenzellen, die mit der Aufnahme von Au-ßenreize beschäftigt sind: Das Verhältnis beträgt 100 000 zu 1.128 Das System unterscheidet sich selbst von der Umwelt, zieht sich gleichsam mit eige-nen Operationen Grenzen. So muss sich in letzter Konsequenz jedes psychische Sys-tem selbst von seiner Umwelt abgrenzen, dies tut es in autopoietischer Weise, in-dem es Grenzen zieht, die interne Funktion, ein System ermöglichen, das wiederum die Grenze festlegt. Auf diese Art konstituiert sich das psychische System selbst in rekursiver Weise durch seine eigenen Unterscheidungen – die Grenze zur Außen-welt markiert nicht bloß das » Ende « des Systems oder der Erkenntnis, sondern kon-stituiert das System vielmehr erst. Wie Maturanas Erkenntnistheorie ist auch dies die operationale Konzeption einer Epistemologie.Die Grenzen haben die Funktion, Diskontinuität zu sichern, nicht die Funkti-on, Wege zu weisen, die aus dem System herausführen. Was immer man als Erkennen beobachten oder als Erkennen bezeichnen will: wenn damit eine Operation gemeint sein soll, gilt zwingend, daß es sich um eine in Bezug auf Umwelt kontaktunfähige und in diesem Sinne blinde Operation handeln muß.129 Autopoietische Systeme sind für Luhmann zugleich jedoch auch offene Systeme, die in hohem Maße auf ihre Umwelt, etwa in Form von Energie- und Materieaustausch,angewiesen sind. Entscheidend ist hier jedoch, dass dieser Umweltkontakt von der Zelle gesteuert wird und in Folge Offenheit der Umwelt im Sinne von Erkenntnis 127 Luhmann 2005: 35.128 Schuldt 2006: 30.129 Luhmann 2005: 37.