3.6 Niklas Luhmann 85 Ein Beobachter zweiter Ordnung kann zumindest sehen, dass er nicht sehen kann, was er nicht sehen kann. Er erkennt, dass jede Beobachtung, also auch die eigene, an einen blinden Fleck gebunden ist bzw. dass jede Beobachtung eine seltsame Kombination aus Blindheit und Sehen ist. Dieses Aufdecken von blinden Flecken relativiert die eigene Perspektive. Es zeigt, dass keine Beob-achtung alles beobachten kann.139 Eine Beobachtung zweiter Ordnung kann die Unterscheidung und damit die blin-den Flecke der Beobachtung erster Ordnung sichtbar machen, sie nimmt allerdings keine privilegierte Position ein und steht in der Hierarchie nicht höher als die Beob-achtung erster Ordnung. Jörissen skizziert die auf dieser Basis entstehende Plurali -tät der » Realität des Beobachtens « :Mit dieser Sicht auf den Anderen verändert sich zugleich die Sicht auf die Welt und die Dinge. Was in der Beobachtung erster Ordnung notwendig als so-oder-so seiender Realitätsausschnitt erscheint, wird nun als Effekt eines Be-obachtungsereignisses unter vielen einsehbar. Die Identität dessen, was in der Beobachtung erster Ordnung als Entität der sozialen oder materiellen Welt er-scheint, löst sich damit auf in die Multiperspektivität einer unendlichen An-zahl potentieller Beobachtungsereignisse.140 Das Bewusstsein als Korrelat neuronaler Aktivität arbeitet geschlossen autopoie-tisch, was in diesem Kontext bedeutet, dass es nicht nur keinen Input von außen gibt, sondern auch, dass ein einmal in Gang gekommenes System durch anschlie-ßende und anschlussfähige Operationen des selben Typs aufrecht erhalten wird.Hierin ähneln sich soziale und psychische Systeme, wie etwa Christian Schuldt fest-hält:So wie die Elemente sozialer Systeme Kommunikationen sind, sind die Ele-mente psychischer Systeme Gedanken. Und ebenso wie Kommunikationen er-scheinen auch Gedanken als Ereignisse, die im Moment ihres Auftauchens wieder verschwinden und zur Aufrechterhaltung des Systems durch neue Ele-mente ersetzt werden müssen.141 Es wird deutlich, dass die primäre Realität für jedes beobachtende System eine Be-obachtung erster Ordnung darstellt, die in ihrer Aktualität autopoietisch aufrecht erhalten wird – Realität entsteht durch das Prozessieren von Unterscheidungen.Wenn das System nur mit Hilfe des Gebrauchs von Unterscheidungen operieren und somit erkennen kann, ist alles, » was für das System Welt ist und damit Realität hat « ,142 über Distinktionen, über die Unterscheidung als grundsätzlichste Operati-on, die ein Beobachter ausführen kann, konstituiert. Wie auch Humberto Maturana 139 Schuldt 2006: 51.140 Jörissen 2007: 146.141 Schuldt 2006: 30.142 Luhmann 2008a: 39.