3.10 Herbert Marshall McLuhan 111 3.10.6 McLuhan neu lesen Georg Christoph Tholen macht in seinen Ausführungen über McLuhans Theorie der Extensions of Man auf den Bruch aufmerksam, der zwischen Man und Extensions durch Technologie entstanden ist. Insbesondere die Idee eines vormedialen Lebens,die McLuhan in seiner Theorie durchaus offen lässt, trägt dabei, wie bereits geschil-dert, die Gefahr der Angst vor einem Verschwinden dieses vermeintlich » ursprüng-lichen « Lebens, in sich.Das unbefeckte Ideal dieses anthropomorphen Narzissmus führt zu einer in sich kreisenden Denk1gur des unmittelbaren, vormedialen Lebens, in dessen Namen das Leben als verloren gilt, aber nach kathartischer oder gar apokalyp-tischer Reinigung zu sich oder auf sich zurückkommen könne.206 Hier schließt wiederum die Idee des digitalen Scheins an, der einen momentanen,vorläu1gen Höhepunkt medialer Technologie darstellt. Die Vorstellung einer nicht-oder vormedialen, direkten (weil un-mittelbaren) Wahrnehmung ist für Tholen ein Fetischismus, der impliziert, es gebe ein vom medialen Schein der technischen Ge-staltung zu trennendes, unabhängiges Eigenes der Dinge,207 das, erst sichtbar ge-worden durch das Entfernen des arti1ziellen Scheins, unverstellte und somit direk-te, natürliche Wahrnehmung ermögliche. Der hier zu Grunde liegende Dualismus von Natur und Technik, die Vorstellung, » dass das Natürliche vom Technischen in ontologischer Hinsicht unberührt sei « ,208 invisibilisiert die unaufösbare Verstri-ckung der Wahrnehmung in » medial zäsurierte « 209 Vorgängigkeit, die jede Hoff-nung auf eine natürliche Wahrnehmungssphäre, zu der man irgendwie zurückkom-men könnte, utopisch und prinzipiell unmöglich erscheinen lässt. Die anthropologi-schen Medien-Auffassungen McLuhans tragen für Tholen in diesem Kontext dem Umstand zu wenig Rechnung, dass Medien als Sinn stiftende Techné maßgeblich an der Vermittlung, also an irgendeiner Form verständlicher Wahrnehmung beteiligt sind.Denn diese ist immer schon vom Künstlichen af1ziert, angewiesen auf die List der Techné, die erst etwas erscheinen lässt – auch die Welt der Instrumente.210 McLuhans Reduktion der Technologie auf eine unvermittelnde Erweiterung menschlicher Fähigkeiten ist demnach als Verschleierung der Funktionalität aller Medien, als Techné etwas erst vor einem Hintergrund hervorzuheben, zu sehen. Die These von den extensions of man liest sich so gesehen durchaus als Widerspruch zu » the medium is the message « , in dem der Vermittlungscharakter von Medien ei-gentlich implementiert ist. Vormediale Wahrnehmung ist, zusammenfassend formu-liert, nicht denkbar als Wahrnehmung, in der irgendetwas gewusst oder verstanden 206 Tholen 2008: 135.207 Tholen 2008: 134 f.208 Tholen 2008: 128.209 Tholen 2008: 128.210 Tholen 2008: 128.