120 Beobachtungen der Virtualität – vom Cyberspace zum virtuellen Instrument Rieger skizziert im Zuge seiner kybernetischen Anthropologie den Menschen als Symbol bildendes Wesen, als Zeichenverwender, der jenseits aller Rationalität und klarer Unterscheidungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit nur über das Phantom-hafte oder Virtuelle verstanden werden kann.Deswegen wirken Denkansätze so hilfos, die im Phantom und im Virtuellen nur die Absenz einer hochgefeierten Eigentlichkeit und nicht die Bedingung der Möglichkeit von menschlichem Sein überhaupt sehen.9 Rieger weist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Genealogie des Virtu-ellen hin, die mit jener der Digitalität nicht gleichursprünglich ist. Der Euphemis-mus angesichts neuer Medientechnologie birgt so die Gefahr, den Menschen nicht auch » in anderen Zeitaltern als denen seiner technischen Reproduzierbarkeit und seiner digitalen Simulation « 10 als Zeichen verwendendes Lebewesen auffassen zu können. Es entwickelt sich eine Art Paradox: Gerade die unbedingte Zeichenhaftig-keit der digitalen Virtualität und ihrer Apparate und Rahmungen verstellt damit die Einsicht in die Medialität jeglicher – vordigitaler, vorelektronischer oder vorschriftli-cher – Wahrnehmung, mithin in die Genealogie des Virtuellen selbst. Obwohl Rie-ger nicht nur die digitale Virtualität, sondern in diesem Zusammenhang gleich die Virtualität selbst als anthropologische Konstante beschreibt, merkt er auch an, dass digitale Virtualität ihre eigenen Strategien und Konsistenzen aufweist.Kaum eine Technikgeschichte folgt einer internen Teleologie so sehr, wie es ge-rade die Evolutionsgeschichte des Cyberspace tut. Dafür gibt es Gründe: ers-tens das Hinzukommen immer weiterer Teilsinne zur approximativen Schlie-ßung einer Sinnestotalität und zweitens innerhalb der einzelnen Sinne deren stetige Verbesserung.11 Die approximative Schließung, die Rieger hier beschreibt, steht dabei für den im Grunde fokussierten und begrenzten Bereich der Virtualität, die Jaron Lanier und VPL Research (siehe folgende Abschnitte » von der virtuellen zur erweiterten Reali-tät « ) als Virtuelle Realität verbreiten und vermarkten wollten. Gleichzeitig fallen hier die mit Bewegungs- und Beschleunigungssensoren ausgestatteten Controller der aktuellen Spielekonsolen ein. Der zweite genannte Punkt betrifft die Verbesse-rung der Codierung von Sinnesmodalitäten, wobei es hier hauptsächlich um Aufö-sung im visuellen und Bitraten im auditiven Bereich geht, die beiden Sinne, die im Bereich der Mensch-Maschine Schnittstelle die dominierende Rolle spielen.Heiner Klug legt in seiner 2001 erschienenen Dissertation die Chancen dar, die diese approximative Schließung für die Musikpädagogik und -didaktik bietet und unterstreicht die immer schon vorhandene Wichtigkeit der Virtualität für das Musikverständnis im Sinne von Welten jenseits der Schriftlichkeit von Notation 9 Rieger 2003: 190.10 Rieger 2003: 191.11 Rieger 2003: 44.