4.1 Eine kurze Geschichte der Virtualität 123 versteht, ist der Begriff » Cyberspace « offenbar eine derjenigen populären Bezeich-nungen, die am treffendsten beschreiben, was die neue Technologie im Kern mit sich führt. Cyberspace als Begriff, gleichsam als Ort, wurde erschaffen, um die letzt-lich unbequeme Tatsache zu verschleiern, dass wir für die Wahrnehmung eines Raums, sei es jetzt optisch oder akustisch, diesen Raum in ontologischer Hinsicht nicht brauchen, beziehungsweise er gar nicht existiert. Er ist ein Platzhalter, der un-ser Unbehagen auffüllt, das beim Gedanken entsteht, dass ontisch hinter der bloßen Wahrnehmung nichts wahrnehmbares exisitert.4.1.3 Cyber-Religion: der Seelenraum Margaret Wertheim macht in ihrem Buch Die Himmelstür zum Cyberspace – Eine Ge-schichte des Raumes von Dante zum Internet eine quasi religiös durchwirkte Strategie im Umgang mit virtuellen Welten aus, in der Cyberspace – wie der christliche Ent-wurf vom » Himmel « – als » entkörperlichtes Paradies für unsere Seelen « 18 konzi-piert wird. Kern dieser Strategie ist die nun mit Cyber-Vorzeichen versehene, uralte Unterscheidung von Körper und Geist, dessen christliche Ausprägung auch die Idee der » Seele « mit einschließt. Für den Körper und für den Geist sind in dieser Di-chotomie zwei verschiedene Räume vorgesehen:Bezogen auf den Raum, hat sich diese Spannung in unseren jeweiligen Vorstel-lungen von dem abgespielt, was wir als einen Raum wahrnehmen, in dem sich unser Körper bewegt, und dem Raum, in dem unsere Seele oder Psyche zu Hause ist.19 Die Idee des Cyberspace als Iteration des Seelen-Raumes wird von Wertheim aus -führlich anhand von Zitaten belegt, die Cyberpioniere wie Jaron Lanier oder Micha-el Benedikt zum Beginn der » Cyberära « abgaben und der Idee eines reinen Geistes und der Abstreifung des Körperlichen verschreiben waren. Derartige religiöse An-sätze, von Margaret Wertheim kenntlich gemacht und abgelehnt, weisen dabei zu-nächst auf den grundsätzlichen Umstand hin, dass der Cyberspace ein Raumentwurf ist und diese Ausprägung von » Space « unser gesamtes Raumkonzept betrifft – oder betreffen sollte. Denn die Reduktion des Cyberspace auf den Seelenraum lässt alte Dichotomien und Ontologien offen – und den so genannten » physikalischen « Real-raum unangetastet.So verweist uns der Cyberspace jetzt wieder auf eine dualistische Realität. Aber-mals haben wir ein materielles Reich, wie es die Wissenschaft beschreibt, und ein immaterielles Reich, das wie eine andere Ebene der Wirklichkeit funktio-niert.20 18 Wertheim 2002: 6.19 Wertheim 2002: 21.20 Wertheim 2002: 21.