4.3 Von der virtuellen zur erweiterten Realität 135 der Differenz real/virtuell darstellt und die Virtualität auf der anderen Unterschei-dungsseite wieder eingeführt werden kann. Realität und Virtuelle Realität sind nicht dergestalt kontrastierbar, wie es oftmals vorzu1nden ist, da sich in der VR be-reits gezeigt hat dass sie immer schon real ist.4.3.2 Die vermeintliche ›Überlistung‹ der Sinne Die Problematik der Benennung ›natürlicher‹ oder ›physikalischer‹ gegenüber ver-meintlich ›synthetisierten‹, ›künstlichen‹ Welten haben viele Pionieren der VR-For-schung. David J. Sturman schreibt 1991 in seinem Beitrag zu Manfred Waffenders Sammelband Cyberspace. AusJüge in virtuelle Wirklichkeiten von einer Überlistung der Sinne:[…] wir haben erkannt, daß jeder Input das Gehirn über die Sinne erreicht.Wenn wir das Gehirn übertölpeln wollen, müssen wir also « lediglich » die Sin-ne überlisten. Und genau auf dieses Ziel arbeitet gegenwärtig die Erforschung künstlicher Realitäten hin.52 Genau genommen haben wir es allerdings nicht mit einer Überlistung der menschli-chen Sinne zu tun. Die Vorstellung der Überlistung der Sinne oder des Gehirns, wie er von Sturman hier propagiert wird, ist letztlich auf philosophischen Realismus in seiner » naiven « Form zurückzuführen, der davon ausgeht, dass eine wortwörtlich mit Händen greifbare Realität über unserer Sensorium in das Gehirn weitergeleitet und dort eine mehr oder weniger zutreffende Repräsentation davon zusammenge-setzt wird. Der Erkenntnisapparat erscheint als Maschine der Verarbeitung von In-put aus der » realen « Welt, die Opposition künstlich/natürlich wäre hiernach letzt-lich durch das Umlegen eines on/off Schalters hinreichend de1niert.Virtuelle Realität bedient sich jedoch der Konstruktionsfähigkeit unseres Er-kenntnisapparates und nutzt nicht seine Naivität, künstliche Reize für » real « zu hal-ten. Den Sinnen ist es, um eine nicht ganz zulässige Metapher zu bemühen, egal, ob die Reize, die sie empfangen, auf eine alltägliche oder eine vom Menschen geplante Sinnesreizung rekurrieren, das Gehirn wiederum setzt auf dieser Basis eine Welt zu-sammen. Da es nicht darauf programmiert wurde, eine reale Wirklichkeit abzubil-den, sondern, wie Maturana feststellt, immer nur mit internen Zuständen operiert,die andere interne Zustände verursachen, kommen Cyberwelten zunächst nicht da-durch zustande, dass das Gehirn seine » eigentliche « Bestimmung sozusagen aus dem Blick verliert und sich gleichsam überlisten lässt.Der Mensch ist in der Lage, kybernetisch, also gesteuert oder geplant, spezi1-sche Wahrnehmungen herzustellen und dabei den alltäglichen Realraum für eine festgelegte Zeit zu ersetzen. Über das Dispositiv der Digitalisierung gelingt ihm das so gut wie nie zuvor. Es gelingt ihm sogar so gut, dass von Medienphilosophen wie Vilém Flusser die Realität eines Objekts als reine Frage der graphischen Aufösung aufgefasst wurde, wobei es allerdings keinen Sinn macht, Alltagswirklichkeit und 52 Sturman 1991: 99 f.