28 Barbara Dehm-Gauwerky Wie der Beziehungs guren. Sie lassen sich am ehesten mit Begriffen der Bewegung und Dynamik beschreiben, wie wir sie in der Musikliteratur nden. Schon musikali-sche Bezeichnungen wie crescendo-decrescendo, accellerando-ritardando verweisen auf dynamische Züge des Körper- und Affekterlebens. Das Anschwellen oder Ab-klingen einer Melodie oder Erregung, die Beschleunigung der Atmung beim Laufen oder des Tempos einer Komposition, die Verlangsamung der Aktivität im Einschlaf-vorgang oder am Ende eines Musikstücks mögen zur Veranschaulichung dienen. Vitalitätsaffekte sind nicht zu verwechseln mit kategorialen Affekten wie z. B. Freu-de, Trauer, Scham usw., also Affektinhalten. Aber kategoriale Affekte ereignen sich in den Bewegungskonturen der Vitalitätsaffekte. Zorn kann anschwellen, Freude ex-plodieren, jemand kann in Trauer versinken usw. Allerdings ist der Bezug nicht 1:1 festgelegt. Gleiche Vitalitätsaffekte können die Kontur für unterschiedliche katego-riale Affekten abgeben. Nicht nur Zorn kann anschwellen, sondern auch Angst, nicht nur Freude kann explodieren, sondern auch Wut; nicht nur in Trauer kann man versinken, sondern auch in Scham. Die Vitalitätsaffekte sind also mehrfach de-terminiert. Ihre Bedeutung bleibt kontextabhängig, bestimmt sich aus der Interpre-tation des Zusammenspiels. Aber sie geben in ihrer szenischen Struktur ein Vehikel ab, mit deren Hilfe die Körper- und Affekt-Impulse des Kindes übersetzbar werden. Ein Beispiel: Ein Baby krabbelt und schubst einen Ball vor sich. Die Mutter sieht dies und sagt Hui – i – i. Das Baby schaut die Mutter an und lacht. Sie hat den Im-puls des Kindes in einen Stimmlaut übersetzt. Die Stimmgestaltung der Mutter ist zwar Übersetzung, ist aber nicht von der Szene und vom dyadischen Erleben trenn-bar. Außerhalb der Szene macht sie keinen Sinn bzw. ist völlig unverständlich. Aus-drucks gur und Interaktionsform liegen hier ineinander. Das Gefühl des Passenden macht den Übersetzungsschritt für beide zu einem präsentativen Symbol. Zwischen ihnen bildet sich ein symbolischer Raum. Wir können zusammenfassend feststellen: Die Stimmgestaltung der Mutter hat etwas ersetzt, nämlich den Körperimpuls und die neurophysiologische Affektregistrierung des Ballschubsens – und sie war gleich-zeitig ein kommunikativer Akt. Indem sich Mutter und Kind in der Szene über die Bedeutung des Impulses einigen konnten, wurde ihre Stimmgestaltung zur Meta-pher in der Szene. Von Metapher möchte ich also sprechen, wenn die Ausdrucks -guren der Interaktionsformen gemeint sind, von präsentativem Symbol hingegen, wenn ihre Bedeutung gemeint ist.26 Beides kann nicht voneinander getrennt ge-dacht werden und ist jeweils nur ein anderer Blickwinkel auf den gleichen Vorgang. Die Kontroverse in der sprachwissenschaftlichen Metapherntheorie zwischen Sub-stitutions- und Interaktionstheorien erweist sich hier als je einseitige Perspektive auf eine Gesamtsituation.Indem sich das Kind nun allmählich die Übersetzungsfähigkeit der Mutter an-eignet, nimmt seine Symbolisierungsfähigkeit zu und die Konstituierung seiner in-dividuellen Identität als Subjekt schreitet voran. Dieser Prozess ist verbunden mit weiteren kleinen Unstimmigkeiten, Brechungen, denn die Identität des Kindes kon-26 Niedecken bezeichnet die Metapher als das » öffentliche Gesicht der Repräsentanzen « . In: Versuch über das Okkulte, edition diskord 2001, S. 321.