Musik als Metapher gesamtgesellschaftlicher Interaktionsformen 31 mir, dass seine afrikanische Frau geschlagen worden war, weil sie das eheliche Bett in der Hochzeitsnacht verweigert hatte. Ich war in der Übertragung, die sich in der Improvisation realisierte, also gleichsam in der Rolle einer, den Geschlechtsakt ver-weigernden und deshalb geschlagenen Ehefrau. Diese Inszenierung hielt ich nicht länger aus.Deshalb war ich in der Sitzung, die ich gleich schildern werde, fest entschlossen, mich nicht länger in den Puls von Herrn S. zu fügen. Ich begann die Improvisation mit einem eindeutigen ¾ -Takt. Herr S. versuchte sofort, diesen zu übertönen. Aber es gelang ihm nicht, mich aus dem Konzept zu bringen. Dies führte zu einer musi-kalischen Gestalt mit sehr lustvollen metrischen Überlagerungen und Akzentver-schiebungen, die ich mit einem lauten Cluster beendete. Herr S. war von unserer Improvisation begeistert. Auch ich war mit unserer Musik sehr zufrieden und er-staunt über die unvermuteten Einigungsmöglichkeiten. Dann hatte Herr S. folgende Einfälle: Er berichtete zufrieden von seinen Telefonaten mit den Verwandten in Afri -ka. Zusätzlich tauchte ein neuer Gedanke in der Musiktherapie auf, nämlich derjeni-ge, dass ihm hier in Deutschland sehr geholfen wird. Die Auffassung ist verbreitet, Musik sei eine interkulturelle Sprache. Dass wir es mit dieser Meinung nicht so leicht nehmen können, kann dieses Beispiel demons-trieren. Es zeigt vielmehr, dass eine tiefe kulturelle Kluft zwischen Herrn S. und mir auch in der Musik überbrückt werden musste, um zu einer intersubjektiven Eini -gung zu gelangen.Erst indem ich mich mit dem ¾ -Takt gegen die Einengung durch die stereotypen Pulse von Herrn S. wehrte, bekamen seine von kultureller Fremdheit bestimmten Interaktionsformen in der bimetrischen Musik eine von Lust geprägte Fassung. Den ¾ -Takt hält Rémi Hess 29 für ein typisch europäisches Produkt, ja für einen wesentli-chen Bestandteil europäischer kultureller Identität. Durch die metrische Überlage-rung mit der von seiner afrikanischen Trommelkultur geprägten Pulsation konnte die intersubjektive Einigung in der Musik tatsächlich die Funktion einer Metapher in einem kulturell bestimmten Rollenkonfikt in der Übertragung annehmen. Eine musikalische Form war entstanden, die in sich selber den interkulturellen und inter-subjektiven Riss zwischen uns zum Ausdruck brachte wie sie ihn überbrückte. Sie erhielt sowohl die in seiner Heimat übliche polymetrische Trommelkultur und seine Identität als afrikanischer Mann und Trommler als auch ein typisch europäisches, triadisches Metrum, das meiner kulturellen und subjektiven Identität als Frau ent -sprang. Diese Musik machte eine Transformation auf eine neue mentale Ebene mög-lich, wurde zur Metapher einer Interaktionsform intersubjektiver Fremdheit, die ge-tragen war von einer tiefen interkulturellen Kluft. Wir hatten uns in der Musik über unser Fremdsein geeinigt, indem jeder seine eigenen kulturellen Wurzeln in Form seiner spezi schen Idiomatik in die Improvisation einbrachte. Dies entlastete Herrn S., denn es bestätigte ihn in seiner subjektiven Identität als Afrikaner in Westeuropa und es half ihm, eine neue Perspektive auf seine aktuelle Situation zu entwickeln. Er sah, dass er in Deutschland Hilfe bekommt.29 Rémi Hess, Der Walzer. Geschichte eines Skandals, Europäische Verlagsanstalt 1996, S. 329/330.