Musik als Metapher gesamtgesellschaftlicher Interaktionsformen 33 bilden sich » zu festen Regelsystemen verdinglichte hierarchische Interaktionsstruk-turen, die nicht mehr in ihrer interaktiven Bedeutung gesehen werden, sich viel-mehr naturhaft-unabänderlich darstellen « .33 Diese nennt Niedecken mit Maud Mannoni 34 Institutionen. Es sind Klischees 35 als Symptom des gesellschaftlichen Unbewussten. Dies setzt sich zusammen aus der Bündelung und Verklebung der im dyadischen Erleben verbundenen, unbewussten Interaktionsformen derjenigen Menschen, die in diesen Institutionen eine Rolle einnehmen, ohne sie zu refektie-ren. Unbewusst gemacht sind nicht nur Manifestationen des Psychischen, also Phantasien und Triebe, sondern ebenfalls Wahrnehmungen der äußeren Realität, die die Stabilität einer Gesellschaft oder Organisation bedrohen. » Das gesellschaftliche Unbewusste ist somit wie ein Behälter, der all das aufnehmen muss, was eine Ge-sellschaft gegen ihren Willen verändern könnte « .36 Diese verklebten unbewussten Interaktionsformen bleiben als gesamtgesellschaftliche Interaktionsformen weiter-hin virulent und wirken auch in Form musikalischer Klischees ein auf die Dynamik des gesellschaftlichen Geschehens. Das Abgewehrte kehrt wieder in veränderter Ge-stalt. Ein Beispiel für einen solchen Vorgang mag der Umgang mit Fremdenhass und Judenverfolgung sein, der im Dritten Reich in Deutschland katastrophale Aus-maße angenommen hat. Das Erbe dieser nur teilweise bewältigten Vergangenheit kehrt wieder in Form neuer Fremdenfeindlichkeit und/oder imperialistischem Ge-dankengut, in solchem Verhalten und auch z. B. in Neonaziliedern.Zur Kulturbildung Dem steht die Kulturbildung auch in Form von Kompositionen gegenüber. Diese kommen in der Entwicklung des Kindes und in der psychoanalytischen Musikthe-rapie nur indirekt zum Tragen, z. B. in Form von Zitaten. Im Bereich des öffentli-chen Lebens können sie jedoch eine direkte, gesellschaftskritische Funktion anneh-men dadurch, dass in ihnen bisher in einer Gesellschaft Nicht- oder Noch-Nicht-Wahrnehmbares und Nicht- oder Noch-Nicht-Sagbares einen metaphorischen Aus-druck ndet. Musik kann dies tun mit Hilfe ihrer Formenbildung. Über ihre Struk-turen stellt sie – wie Langer sagt – Analogien her zu elementaren Lebensprozessen. Analogien sind nicht zu verwechseln mit phänomenalen Ähnlichkeiten. Eggers 37 demonstriert dies eindrücklich anhand eines Beispiels von Wittgenstein: Die Rillen einer Grammophonplatte haben eine analoge Form zur Musik, die sie speichern. Über ihre analogen Strukturen bleibt die Musik mit den elementaren Lebensprozes-sen wegen der nicht ausdifferenzierten Repräsentanzen verbunden. Insofern wer-33 Dietmut Niedecken, Namenlos – Geistig Behinderte verstehen, Piper 1989, S. 13. 34 Maud Mannoni, Das zurückgebliebene Kind und seine Mutter, Walter Verlag 1972. 35 Unter Klischees versteht Lorenzer Interaktionsformen, die noch nicht oder nicht mehr symbolisiert sind und sich unabhängig vom Bewusstsein gleichsam hinter dem Rücken des Subjekts in Szene set -zen.36 Mario Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit, Suhrkamp 1992, S. 221.37 Eggers 2010, vgl. Anm. 21.