34 Barbara Dehm-Gauwerky den in ihr auch bisher unbewusste gesellschaftliche Interaktionsformen sinnlich wahrnehmbar, gestaltbar und können neue Vorstellungsräume eröffnen.Diese metaphorische Funktion von Kompositionen kann vom szenischen Verste-hen her aus zweierlei Perspektive begriffen werden:1) Der Komponist steht im Zusammenhang einer vernetzten musikalischen Tradi-tion. Da in der Musik wegen der nicht ausdifferenzierten Repräsentanzen das dya-dische Erleben – also auch die gesellschaftlich unbewussten Interaktionsformen – immer mitläuft, ist sein individuelles dyadisches Erleben in der Musik mit dem ge-sellschaftlichen Unbewussten verbunden. Dies ist zwar ein Zusammenhang, der für jeden Menschen gilt. Gerade auch der Komponist muss sich ergreifen lassen von den dyadischen Szenen, die im Umgang mit der Musik auftauchen. Damit öffnet er sich für die neuen Erfahrungen, die dem Selbst fremd sind. Vor diesen Hintergrund setzt er sich mit den tradierten Idiomatiken in seiner Komposition auseinander. Des-halb kann diese in ihrer neuen Formenbildung zur immanenten Kritik und zum Container für die Inszenierungen werden, die Erstarrung im Idiom – d. h. in musi-kalischen Klischees – und Unbewusstmachen von gesamtgesellschaftlichen Interak-tionsformen hervorriefen. Dieser Vorgang lässt sich verstehen als eine diskursive Durchdringung des musikalischen Materials, wie Niedecken sagt. Das Objekthafte des Werks verlangt immer » die Einpassung ins Idiom und also ins Gegebene, Ob-jektive « .38 Die neuen Erfahrungen, welche den idiomatischen Rahmen sprengen, nden nur in Auseinandersetzung mit ihm ihren Ausdruck. Hier zeichnet sich gleichsam ein Vexierbild zur sinnlichen Durchdringung in der metaphorischen Sprache ab. Die sinnliche Brechung, die die sprachliche Metapher kennzeichnet, stellt sich hier umgekehrt dar als eine diskursive Brechung, die das klischeehaft-sinnliche Erleben infrage stellt und verändert. Metaphern enthalten – wie bereits an mehreren Stellen meines Aufsatzes deutlich wurde – immer eine Brechung, setzen in Bewegung und erfordern einen wechselseitig sich durchdringenden, interpretie-renden Prozess.2) Der Ausdruckscharakter der Musik bringt den Hörer ins Spiel. Es inszeniert sich ein Verhältnis zwischen ihm und dem Komponisten. In dieser Inszenierung ver-wirklicht sich eine spezielle Art von Zeitlichkeit. Hierin unterscheidet sich Musik von bildender Kunst aber auch von Sprache. Musik schafft nach Langer ›illusionäre Zeit‹.39 Johannes Picht 40 spricht von Darstellung von Zeit. Die Darstellung von Zeit in der Musik geschieht zwar im Nacheinander ihrer Elemente. Diese verändern je-doch in ihrer Beweglichkeit ihr Verhältnis zueinander und ihre Funktion füreinander, wie Ligeti 41 ausführt. Erst im Bezug zum Ganzen einer Komposition erhalten sie ih-ren Sinn. Erlebt wird der zeitliche Verlauf einer Komposition vom Hörer wegen der 38 Niedecken 1988, S. 120 und 2010, Psyche – Z Psychanal 64, S. 505–525.39 Vgl. Eggers 2010, S. 26.40 Johannes Picht, Musik und Psychoanalyse hören voneinander. Zum gegenwärtigen Stand einer künfti-gen Beziehung, Vortrag auf dem Symposium Musik und Psychoanalyse hören voneinander, in: Hamburg, 2010, unveröffentl. Manuskript, S. 4.41 Györgi Ligeti, Form in der Neuen Musik, Vortrag im Rahmen des Kongresses ›Form in der Neuen Mu-sik‹ bei den 20. Internationalen Ferienkursen für Neue Musik, Darmstadt 1965, in: György Ligeti, Ge-sammelte Schriften, Bd. 1, S. 185–200, Hg. Monika Lichtenfeld, Schott 2007.