36 Barbara Dehm-Gauwerky das Thema der interkulturellen Verständigung angeschnitten habe, soll mein Musik-beispiel dies Thema ebenfalls berühren. Christian Utz 44 weist darauf hin, dass die Dichotomie zwischen globalisierenden und regionalisierenden Tendenzen einen Hauptkonfikt für gegenwärtige kollektive Identitätsbildung darstellt. Er zitiert Sey-la Benhabib: » Eine weltweite Systemintegration einerseits und eine soziokulturelle, linguistische und ethnische Zersplitterung andererseits bilden die Bruchlinien, an denen sich die Widersprüche der heutigen globalen Zivilgesellschaft abzeichnen « .45 An diesen Bruchlinien komponierte György Ligeti (1923–2006). Constantin Floros 46 betont vor allem die Komplexität von dessen Spätwerk, in welchem Ligeti musikali-sche Idiome unterschiedlichster historischer und kultureller Quellen zu einem ganz eigenen Ausdruck zusammenfügt. Dabei ließ er sich von der Vokalpolyphonie vom Spätmittelalter bis zur Renaissance beeinfussen, von der Polyphonie und Polyme-trik der subsaharischen Buganda, aber auch von der Äquidistanzialität der Musik Javas und Melanesiens. Hinzu kamen Anregungen durch die Musik für mechani-sche Klaviere von Conlon Nancarrow sowie durch fraktale Bilder von Mandelbrot-Menge und Julia-Mengen. Komplexität heißt hier Integration in Kritik und Wider -spruch zu Unterwerfung unter Direktiven jeglicher Herkunft, seien sie tonaler, seri-eller oder aleatorischer Art. Indem er die musikalischen Verhältnisse und Funktio-nen zueinander in eine neue Beziehung setzte, behandelte er Szenen, die vorerst einzig in der Musik in Erscheinung treten konnten. Entsprechend meinen bisherigen Refexionen lässt sich von der Metaphorisierung gesamtgesellschaftlicher Interak-tionsformen sprechen.Um diesen Vorgang darzustellen, bin ich in drei Schritten vorgegangen. Zuerst habe ich nach dem Bezug des Komponisten zum Hörer gefragt, beide als Teil des gesellschaftlichen Ganzen. Zu diesem Zweck habe ich einige Menschen befragt nach ihren Assoziationen zum dritten und vierten Satz aus Ligetis Klavierkonzert (1985–1988). Den Hörern lag es in einer Aufnahme mit dem Ensemble Intercontemporain aus dem Jahr 1994 vor. Dirigiert wurde es von Pierre Boulez. Den Klavierpart spielte Pierre-Laurent Aimard. Die Hörer hatten keine Vorinformationen über die Musik. Sie notierten ihre Einfälle während des Hörens. Mit Hilfe ihrer Assoziationen wird ihr Unbewusstes zugänglich. Mich interessierte in diesem Zusammenhang jedoch nicht ihre persönliche Psychodynamik, sondern die Struktur, die ihren Einfällen ge-meinsam war. Ich fragte also nicht, warum erlebt Herr oder Frau X,Y,Z die Musik so oder auch so, sondern ich fragte, welche szenischen Strukturen verbindet ihre Asso-ziationen.47 Auf diese Weise kann die szenische Struktur einer gesamtgesellschaftli-chen Interaktionsform (oder mehrerer) erkennbar werden. Dies soll in einem ersten 44 Christian Utz, Neue Musik und Interkulturalität. Von John Cage bis Tan Dun, Franz Steiner Verlag 2000.45 Seyla Benhabib, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit, Fischer 1999, S. 28.46 Constantin Floros, Versuch über Ligetis jüngste Werke, in: Für György Ligeti. Die Referate des Ligeti-Kon-gresses Hamburg 1988, Regensburg 1991, S. 335–349.47 Dieses Vorgehen hat Ähnlichkeit mit der Methode der Beschreibung und Rekonstruktion, wie sie in der morphologischen Musiktherapie entwickelt wurde. Im Gegensatz dazu habe ich hier aber nicht nach der Psychopathologie eines Patienten gefragt, sondern nach den verbindenden szenischen Struk-turen der Hörerassoziationen. Diese werden in der morphologischen Musiktherapie – wie sie Rosema-rie Tüpker (Ich singe, was ich nicht sagen kann, Gustav Bosse Verlag, Regensburg 1988) darstellt – nicht explizit als solche benannt. Auch ist der Interpretationsrahmen hier ein anderer.