Musik als Metapher gesamtgesellschaftlicher Interaktionsformen 43 Die gesellschaftliche Spirale der Beschleunigung ist nach Rosa mit Desynchroni-sationserscheinungen verbunden, besonders dort, » wo Akteure aus unterschiedli-chen sozialen Schichten oder Kulturkreisen aufeinander treffen, deren Zeitpraktiken und -orientierungen sich spürbar unterscheiden « .61 Das Nebeneinander unter-schiedlicher Geschwindigkeitsschichten im Zeiterleben führt zu einem Bruch in der individuellen wie gesellschaftlichen Identitätsbildung. Ein Anspruch auf gesell-schaftliche Synchronisation und soziale Integration lässt sich nicht mehr aufrecht er-halten. Diese Veränderung des In-der-Zeit-Seins in der Spätmoderne ist verbunden mit einer Veränderung des In-der-Welt-Seins. Welt fällt mit den sozialen, techni-schen, kulturellen Beschleunigungsprozessen mit der Gewalt eines Unfalls auf die Subjekte ein, » sodass die medizinischen Begriffe des Chocs und des Traumas kate-gorial durchaus angemessen erscheinen « .62 Sie führen zu einer Raum-Zeit-Kom-pression. Das Erleben von Raum und Zeit schrumpft im Gegensatz zu der Erweite-rung und Offenheit potentieller Weltbezüge.Eine analoge Interaktionsform der Desynchronisation und damit verbunden ei-ner Raum-Zeit-Kompression inszeniert sich in den unterschiedlichen Geschwindig-keitsschichten des vierten Satzes in Ligetis Klavierkonzert sowie damit verbunden beim Hörer im Erleben des Beschleunigungsstrudels. Hierdurch wird jeder Illusion von Sicherheit der Boden entzogen. Das in seiner kulturellen und gesellschaftlichen Identität verunsicherte und bedrohte spätmoderne Subjekt des dritten Satzes scheint hier der totalen Fragmentierung und damit Vernichtung ausgesetzt.Dies ist jedoch nicht die ganze Botschaft dieses Satzes. Rosa verweist in seinen Ausführungen über die Erstarrung des Selbst-Weltverhältnisses des spätmodernen Menschen auf den Ausdruck repetitiver Eintönigkeit in der Techno-Musik. Maria Becker 63 bezeichnet Techno als Form der Abkehr vom autonomen Subjekt. » Die ständige Wiederholung kleinster Partikel [führt] zu Bewegungs- und Richtungslo-sigkeit, die aber überlagert wird von der Vorspielung von Bewegung durch Ge-schwindigkeit « .64 Im Unterschied dazu verharrt Ligetis Musik weder im Beschleu-nigungs- noch im Wiederholungszwang. In seiner Rekursivität ist der vierte Satz vielmehr eingebettet in Ligetis Intention, in der Zeitlichkeit der Musik Räume zu schaffen. Constantin Floros gegenüber äußerte er sich folgendermaßen: » Seiner Auf-fassung nach – so sagte er – entfaltet sich die Musik im Raum. In seiner musikali -schen Imagination gebe es Haupträume, Nebenräume, Labyrinthe « .65 Ihm gehe es darum, » die Zeit zu bannen, sie zum Stillstand zu bringen « .66 Im dritten Satz hatte dieser Raum – wie zu zeigen war – die Dimension einer sich nähernden Klang-Wolke, entstand beim Hörer die Vorstellung von einem be-drohlichen Näherkommen aus unterschiedlichen Richtungen, das Unübersichtlich-61 Marschall 1997, nach Rosa 2001, S. 46.62 Rosa 2001, S. 79.63 Maria Becker, Das Konzept des Fehlenden Selbst als Abwehrkon guration und seine Symbolisierung in zeitgenössischer Musik, Teil 2, unveröffentl. Manuskript 2005.64 Zit. nach Becker 2005, Honke Rambow, Rhythmus, Zeit, Stille, in: Kunstforum Dauer – Simultaneität – Echtzeit, Bd. 151, 2000, S. 184. 65 Floros 1991, vgl. Anm. 46, S. 346.66 Ebd., S. 346.