Topographie musikbezogener Metaphern auf empirischer Basis 61 Zeit. Aber die musikalische Zeit ist komplexer, zunächst einmal wegen ihrer histori-schen Dimension, ihrer wechselhaften Beziehungen zu Metrum, Rhythmus und Takt.29 Schon beim phänomenologischen Zugriff wird aus dieser komplexen Materie eine komplizierte, zum Teil in sich widersprüchliche Erscheinung. Denn die Zeit schreitet voran, steht still, kreist in sich, eine Musik klingt unendlich, wir gehen auf Zeitreisen. Musik wird als füchtende Zeitkunst verstanden, sie kann in eine größere zeitliche Distanz geraten. In einem berauschenden Klangerlebnis kann man Raum und Zeit vollkommen verlassen. Das Singen nimmt schier kein Ende. Oder es gibt intime Momente und intensive Begegnungen, auch Momente völliger Ratlosigkeit.Musik kann langatmig sein, oder in ihr tobt ein Akkord gewordener Amoklauf. Die Zeit gleitet ihr gleich Wüstensand durch die Hände. Ruhe steht im Mittelpunkt. Da ist von einer großen zeitlichen Distanz die Rede, über die hinweg man Einheit und Zusammen herstellen muss. Eine Stilrichtung ist wegweisend, man hat den Glauben an das Fortschreiten der Moderne.Stellt man die Zeit in den Kontext benachbarter Metaphern, so weist die zugehö-rige Topographie auf Zusammenhänge mit Energie, mit der Natur, mit dem Atem (zugehörig zur Metapher Leben), mit dem Fühlen und der Emotionalität.29 Vgl. die Untersuchungen von Jonathan D. Kramer: The Time of Music: New Meanings, New Temporalities, New Listening Strategies. New York: Schirmer Books 1988; Seidel 1998 wie in der vorigen Anmerkung; Wolfgang Auhagen: Zeit, in: MGG2, Band 9, Kassel: Bärenreiter 1998, Spalten 2220–2251. Nach Lakoff/Johnson (1999) ist unser Verständnis der Zeit angewiesen auf Konzepte der Bewegung, des Raumes und von Ereignissen. Diese sind in Erfahrungen begründet, die vor oder hinter uns liegen, die sich auf Bewegungen im Raum beziehen, bei denen der Beobachter entweder still steht und die Zeit sich bewegt, oder bei der der Beobachter sich bewegt sich und die Zeit still steht. – In einem anderen Beitrag über Rhythmus- und Tempoemp nden weist Auhagen (in: Helga de La Motte-Haber und Günther Rötter (Hg.), Musikpsychologie. Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft, Bd. 3. Laaber 2005, S. 231ff.) zudem darauf hin, dass die musikalische Zeit eine Kategorie des Denkens ist. Was aber die Zeit als eine Kategorie des Denkens ausmacht, wird nicht erklärt. Stattdessen wird das musikali-sche Zeit verkürzt auf messbare Ereignisse bzw. Folgen von Ereignissen, auf Zeitdauerneinschätzun-gen, auf die Segmentation von Zeitstrecken, auf die Periodizitätserkennung und Pulsbestimmung etc. Es wird ausdrücklich festgestellt, dass es eine umfassende und im Detail ausgearbeitete Theorie des musikalischen Zeiterlebens zurzeit nicht gebe, letztlich sei das Zeiterleben das Ergebnis einer Informa-tionsverarbeitung.