76 Gunter Kreutz Transfer-Effekte Wirkungen von Musik und musikalischen Handlungen gehen in zwei unterscheid-bare Richtungen. Die erste betrifft die Musikverarbeitung im engeren Sinne. Darun-ter fallen alle Formen musikalischen Lernens sowie Wahrnehmungen, assoziative Gedanken und Gefühle, die sich wiederum in musikalischem Verhalten und Aus-druck darstellen. Man kann diese Veränderungen als Nah-Transfer-Effekte bezeich-nen. Die zweite Richtung liegt außerhalb spezi scher Veränderungen im musikali-schen Verhalten und betrifft Domänen, die im Sinne Thorndikes 23 gemeinsame Ele-mente mit der Musikverarbeitung aufweisen, ansonsten aber entweder mit dem all -gemeinen Informationsfuss im Gehirn zu tun haben (z. B. Aufmerksamkeit und Ar-beitsgedächtnis) oder anderen Domänen wie Sprache oder dem visuellen System primär zugeordnet sind. Diese Fern-Transfer-Effekte sind zentraler Gegenstand viel-fältiger Forschungen und kritischer Würdigungen.24 Gesundheitliche Wirkungen sind als Fern-Transfer-Effekte zu begreifen, selbst wenn diese bislang nur spora-disch in den Fokus früherer Debatten gerückt sind. Ein instruktives und erhellendes Beispiel, welches lebensweltliche Bedeutungen von Transfer-Effekten verdeutlicht, stellt der Spracherwerb dar. Das vorsprachliche Kind bringt bereits bei der Geburt performative und rezeptive vokale Kompetenz mit, die sich vor allem durch eine hohe Unterscheidungsfähigkeit akustischer Ei -genschaften von Klängen auszeichnet. Dabei ist unerheblich, um welche Art von Geräusch es sich handelt. Diese Fähigkeiten werden häu g als vorsprachlich dekla-riert. Grundsätzlich kann von zwei Wirkungsrichtungen ausgegangen werden, nämlich von der Sprache zur Musik hin und umgekehrt, von der Musik zur Spra-che. Dass sich aber sprachliche auf musikalische Fähigkeiten und Fertigkeiten aus-wirken, erscheint aus Betrachtungen von Entwicklungsverläufen zumindest für die ersten Lebensjahre wenig plausibel. Folglich sind Auswirkungen musikalischer Fä-higkeiten und Fertigkeiten auf sprachkognitive Vorgänge fokussiert worden. So wurde erst kürzlich dargestellt, dass musikalische Frühförderung ähnliche Wirkun-gen aufweist wie therapeutische Sprachübungen zur Förderung phonologischer Be-wusstheit bei Kindern im Vorschulalter.25 Die vor mehr als einem Jahrzehnt durchgeführte Untersuchung von Hans-Gün-ther Bastian (2000) befasste sich vor dem Hintergrund von Transfer-Theorien mit der Frage, wie sich erweiterter Musikunterricht auf die soziale und kognitive Ent-wicklung von Kindern im Grundschulalter auswirkt. Wichtig ist dabei zu bedenken, dass Bestätigung oder Falsi zierung einer ursächlichen Bedeutung musikalischer Interventionen für kognitive Leistungen und (positives) Sozialverhalten keine ab-schließende Interpretation erlauben. Dies wäre nur möglich, wenn dieselbe Studie in verschiedenen Kontexten und unter Berücksichtigung möglicher systematischer 23 Rolf Oerter, Leo Montada, Hrsg., Entwicklungspsychologie. 5. vollständig überarbeitete Aufage. Verlag: BeltzPVU, München, Wien, Baltimore 2002.24 Lutz Jäncke, Macht Musik schlau? Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften und der kognitiven Psy-chologie, Bern 2008.25 Franziska Degé, Gudrun Schwarzer, The effect of a music program on phonological awareness in pre -schoolers, Frontiers in Psychology, 2, 124, 1–7.