132 Norbert Schläbitz -dass Wissen und Bildung nicht mehr das sind, was sie einst waren, -dass damit das gesellschaftliche Fundament gefährdet sei, -unsere Kultur der Vergleichgültigung anheimfalle und -richtungsweisende Ideale verloren gehen und Orientierungslosigkeit herrsche.Mochte Michael Alt vor Jahrzehnten noch schreiben, » [e]s gibt einen über den Zei-ten stehenden klassischen Kanon an Musikwerken « (Alt, zit. n. Wilske 2007, S. 219), so zeigt sich dessen eherne Festigkeit und » Existenz « in Zeiten der Internetkommu-nikation aufgehoben und der Rekurs auf eine solche seltsam antiquiert. Der einst begründungsunbedürftige Kanon muss nach neuen Gründen suchen bzw. neu be-gründet werden, um weiterhin bestehen zu können. Und diese Gründe müssen aus der Gegenwart abgeleitet werden, da die Rahmenbedingungen, aus denen die alten Gründe sich einst schöpften, nicht mehr gegeben sind. Verloren gegangen ist damit eine Vorstellung, dass eine musikalische Hochkultur, wie sie sich in Beethovens Sin-fonien abbildet, Botschaften in sich trage, die nicht weniger als » Ansprachen an die Menschheit « sind, wie sie Holger Noltze mit Beethoven ungehemmt auszumachen meint. Es bleiben hier die auserwählte » Kunst « und dort das » Volk « , wie er bedau-ernd feststellt, voneinander getrennt. Noltze beklagt die » Abnahme kultureller ›Al-phabetisierung‹« (ebd., S. 52), wenn er stirnrunzelnd Shows beleuchtet, in denen die Besten der Nation durch Telefonvoten gekürt werden, wo Mozart nach Grönemeyer und Udo Jürgens den dritten Platz belegt, Beethoven nach Nena und nur knapp vor Roy Black landet und schließlich Bach auf Platz 34 hinter DJ Bobo auf hinteren Rän-gen, aber immerhin noch unter den ersten 50 Plätzen liegt. Autoren, die solches be-klagen, hängen einem Bildungsbegriff nach, der – wie beschrieben – im 18./19. Jahr-hundert seinen fraglos rechtschaffenen Ort noch hatte. Bedenklich sind dabei so romantisierende Beschreibungen, die nicht weniger als im Universalen gleich sich verankert glauben (vgl. Schläbitz 2009a, Schläbitz 2009b), wenn das Zeitlose (wie bei Alt) zum Maßstab eigener Wertschätzung gemacht wird oder gleich Ansprachen an die ganze Menschheit (wie bei Noltze) ausgemacht wer-den wollen. Mochten sich Komponisten wie Beethoven noch mit ihrer Musik an die ganze Menschheit zu wenden glauben, so ist es fragwürdig, derlei heute unkritisch und unkommentiert fortzuschreiben. So wird gleichwohl das eigene Denkgerüst mit großer Münze zum begründungsunbedürftigen hochstilisiert und ist doch – mit Blick auf Logozentrismus und Eurozentrismus – hoch voraussetzungsvoll, wie Der-rida an anderen Beispielen eindrucksvoll dokumentierte. Die hier waltende Untergangsmetaphorik ist mit Händen zu greifen, wobei Schreibende sich ihrer Werte gewiss sind und – plakativ formuliert – auf der guten, sicheren, wahren Seite sich wähnen. Angesichts von Globalität und Flexibilisierung aller Lebens(um)stände sieht auch Julian Nida-Rümelin den Neu-Humanismus als Arznei zu verordnen sich veranlasst: » Vor diesem Hintergrund wird vielleicht etwas deutlicher, warum eine Anknüpfung an die humanistische Bildungskonzeption an-