138 Norbert Schläbitz perten, wieder herstellte, ver elen sie der typisch deutschen Illusion. Das Gegenteil stimmte: Um den Zivilisationsbruch, den es über Europa gebracht hatte, zu heilen, musste Deutschland die deutscheste aller Ideologien aufgeben, die Illusion, die Kul-tur könne eine Kompensation der Politik sein « (Lepenies 2008, S. 110). Und nach dem 2. Weltkrieg gab es tatsächlich Überlegungen, die deutschen Bürger zur Teil-nahme an Lesungen und Konzerten zu verpfichten, damit die Kunst ihre segensrei-che Wirkung entfalten könnte und eine humane ethische Gesinnung wieder auf den Weg brächte (Stichwort: Re-Education). Orientierung, Werte sollten neu implemen-tiert werden mit einer Neuorientierung auf die humanistischen Quellen. » Die Kata-strophe des Zweiten Weltkrieges führte nicht nur in Deutschland zu einer Rückbe-sinnung auf die humanistischen Bildungsideale « (Fuhrmann 2004, S. 208).Festgehalten sei: Kunst und Kultur einseitig als Bildungsmedium zu verstehen, an dem der Mensch vorbehaltlos reifen und genesen können soll, ist eine höchst zweifelhafte, ja naive Vorstellung und beschreibt eine leider zu schöne Illusion, wie sie auch in den Ausführungen von Michael Alt sich ausdrückt, der noch in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts schreiben konnte: » Dem Humanitätsglauben liegt zugrunde der Glaube an das Ursprünglich-Gute im Menschen. Diese lichte schöne Gefühlswelt des Menschen, die edle Grundstimmung der Seele, diese reine Menschlichkeit spiegelt sich in der klassischen Musik. Daher ihre idealistische Be-schwingtheit, ihre natürliche Erhabenheit und Würde « (Alt 1965, S. 218). Wunsch-vorstellungen und Traumwelten ohne jeglichen Realitätsgrund sind es, die in sol -chen Äußerungen sich spiegeln.Die geistige Heimat der Vergangenheit, die sich aus idealistischer Träumerei ei-niger weniger emporschwang, zur geistigen Heimat der Gegenwart zu machen ist angesichts der veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bedenklich. Im Einzelfall sind die Effekte nicht überprüfbar oder ablesbar am Verhalten Bildungs-geschulter, wie die oben gezeigten Beispiele dokumentieren. Aber angesichts der Er-eignisse im 20. Jahrhunderts solches heute noch zu proklamieren, erscheint m. E. mehr als bedenklich: Die überlieferten ästhetischen Formen sind » Lügen gestraft [worden]« , schrieb Adorno nach dem 2. Weltkrieg. Und an anderer Stelle schreibt er nicht weniger deutlich: » Auschwitz [hat] das Mißlingen der Kultur unwiderleglich bewiesen. Daß es geschehen konnte inmitten aller Tradition der Philosophie, der Kunst und der aufklärenden Wissenschaften, sagt mehr als nur, daß diese, der Geist, es nicht vermochte, die Menschen zu ergreifen und zu verändern « (Adorno 2003, S. 359). Die Vermutung liegt nahe, dass gerade das Bildungsbürgertum sich – trotz oder vielleicht sogar gerade wegen des humanistisch geprägten Bildungspro ls – ziemlich angezogen von dem Ungeist zeigte, der in der ersten Hälfte des 20. Jahr-hunderts waltete. » Zunächst der Faschismus und dann der Nationalsozialismus üb-ten auf große Teile der Intelligenz und des Bürgertums eine ästhetische Anzie-hungskraft aus, die heute schwer nachvollziehbar ist « (Lepenies 2008, S. 110). Weite Kreise des deutschen Bildungsbürgertums begriffen » den politischen Umbruch von 1933 idealisierend als ›eine wirkliche Gesundung des deutschen Staatslebens‘« , wie Stefan Rebenich mit Wilhelm Mommsen herleitet (Rebenich 2010, S. 164). Auch viele