142 Norbert Schläbitz naissance, der sich einst gegen den religiösen Fundamentalismus gestellt und sich daraus legitimiert hat, ist heute selbst fundamentalistisch geworden, wo er zur Legi-timation von infrage gestellter Strukturen die humanistische Bildung mit ihren un-terstellten Qualitäten ins Felde führt.Der aus der Renaissance erwachsene Humanismus hat einst eine übersichtlich geordnete (genormte) Welt, in der jeder seinen gottgewollten Platz hatte, in eine Welt der Unübersichtlichkeit überführt, in der eine Vielfalt der Stimmen und diver-gierender Wissensstände im konstruktiven Widerstreit liegen. Mit anderen Worten: Er reformierte die Gesellschaft so gründlich und implementierte eine Haltung, die den unermüdlichen Aufbruch und die Suche nach neuen Ufern in sich trug, dass die » mittlere Welt « von vormals unterging und der Moderne den Weg oder den Auf-bruch zu ihr hin bereitete. Mit der Orientierung am auserwählten kulturellen Erbe beschreibt der Neu-Hu-manismus keine Renaissance oder Aufrechterhaltung der humanistischen Denktra-dition, sondern geradezu das ganze Gegenteil: eine absolutistisch anmutende Dog-menpfege, eine ritualisierte Kommunikation und eine Apologie des rechten Glau-bens. Vor der Metapher der Hochkultur verneigt sich der Einzelne und verschwin-det im Schatten derselben. Allzu mächtig drückt das Hoch den Einzelnen nieder. Von Selbstbildung in Auseinandersetzung mit Musik mag dann noch die Rede sein, doch wo die Hochkultur waltet, ist die zu bedienende Norm nicht weit. Der schöne Klang von Worten verdeckt, dass unter dem Schleier der (neu-)humanistischen Bil-dung mit ihren Metaphern ein totalitäres Regime haust mit seinen Vorschriften, die befolgt werden sollen, will man Eintritt in das » Reich der Freiheit « erhalten, von dem Humboldt träumte. Die Bedingungen zur Selbstbildung liegen im 19. Jahrhundert und wurden ge-tragen von einer nach quantitativen Maßstäben winzigen Bevölkerungsschicht. Hier wurde über die Künste an die Möglichkeit zur Selbstbildung geglaubt, weil für die-se eine privilegiertes Interesse vorlag und für anderes weniger. Ein persönliches In-teresse wurde so zum Maßstab für Bildung für jeden gemacht, was der freien Selbst-bildung enge Grenzen und Hierarchien setzt, wo der Zugang zu den Gütern des ei-genen Interesses vielen verwehrt blieb. Das Bildungsideal des 19. Jahrhunderts meint » zunehmend nicht mehr den freien, sondern den musisch-literarisch interes-sierten Menschen […], der über alles Nichtspezielle eloquent mitzureden weiß. Die der Bildung ursprünglich eigene kritische Komponente hat sich in einer solchen Be-stimmung in einen opportunen Konformismus verwandelt « (Menze 1995, S. 353f.).Dieses » Reich der Freiheit « ist so von Regeln und Ritualen nur so umstellt. Die individuelle Selbstbildung schreibt sich regelkonform, geläutert durch Schulung an Fuge, Sonatenhauptsatz nebst vorgeschriebener Rezeptionsformen, verbunden mit dem Versprechen, frei zu sein, wenn man sich nur an die festgezurrten unveränder-lichen Regeln hält. Das unterstellt Zeitlose folgt starren Mustern und kann davon nicht lassen, wäre Beweglichkeit dagegen zu verorten, würde das Zeitlose seiner Zeitlosigkeit nur verlustig und Hierarchien zugrunde gehen. Und dieses Hierarchie-gefüge mit seinen eingeschriebenen Initiationsritualen erscheint heute obsolet, was