162 Rolf Großmann nen und zu einer begriffichen Verschränkung von technisch geformter Musik, Äs-thetik und Kultur. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob und in-wieweit ein solchermaßen metaphorisch erweitertes Wissenschaftsverständnis und die entsprechende Terminologie für die Analyse aktueller medientechnisch produ-zierter Musik fruchtbar gemacht werden können. Ebenen des Verstehens und Begreifens Umreißen wir zunächst den Rahmen, in dem die Auseinandersetzung mit einigen metaphorischen Erzählungen einer Sonic Fiction statt nden soll. Es geht um das Verstehen und vielleicht auch um das wörtliche Begreifen von Musik als phonogra-phischem Tonträger, um Analyse und Poiesis, um den Wandel der medialen Auf-schreibesysteme und um eine spezi sche musikalische Kultur. Dass diese Kultur hier diejenige der DJ-Culture und der elektronisch produzierten Clubmusik ist, also Stile wie Hiphop, House und Techno beinhaltet, heißt allerdings gerade nicht, dass es sich um einen Randbereich musikalischer Praxis handelt. Im Gegenteil, sie und ihre Derivate sind sowohl qualitativ als auch quantitativ ein bedeutender Teil des musikalischen Alltags. Diese Musik ist, so eine grundlegende These meines Bei-trags, und gleich, ob wir sie zur Kenntnis nehmen wollen oder nicht – ganz im Sin-ne der bereits zitierten Passagen Kodwo Eshuns – paradigmatisch für die Verände-rungen auditiver Gestaltung in einer neu medial verfassten Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts.Das Verstehen von Musik kann auf den unterschiedlichsten Ebenen geschehen. Schauen wir zunächst einmal auf die Rezipientenseite: Eines der immer noch ver-breiteten Klischees ist das des Adornoschen Expertenhörers, der den Typus des ad-äquaten Verstehens und Beschreibens von Musik verkörpert. So ein Hörer versteht die innere Logik eines Musikstücks, er ist in der Lage, sie hörend analytisch zu ver-folgen und auch zu benennen. Das Gegenteil ist nach diesem Modell beim musikali-schen Laien der Fall, er ist der Musik passiv hörend ausgeliefert, er ist nicht in der Lage zu analysieren und sein Zugang zur Musik ist ein nicht-begrifficher. Auf der Produktionsseite sind die Verhältnisse auf den ersten Blick grundsätzlich anders ge-lagert: Jedes Gestalten von Musik – selbst beim nur ausführenden Instrumentalspiel – setzt ein Wissen um die musikalischen Strukturen voraus. Im Produktionsprozess der elektronischen Medien ist außerdem ein Verständnis der technischen Umgebun-gen notwendig. Dieses Wissen und Verständnis muss allerdings nicht notwendiger-weise begriffich sein, es kann im Machen, in der praktischen Aneignung von Me-thoden, Operationen und Verfahren bestehen. Gerade dort, wo die kulturelle Tradi-tion keine eingeführten Begriffichkeiten bietet, sind die sedimentierten Formen des ›Machens‹ gleichzeitig die Wissensformen über musikalische Strukturen. Dies gilt in besonderem Maße für orale Kulturen, aber auch für die musikalischen Kulturen der phonographischen Medien, deren secondary orality die Dominanz wortsprachlicher Schriftkultur in der Überlieferung und theoretischen Bewältigung prinzipiell infra-gestellt.