» Sonic Fiction « – Zum Begreifen musikalisch-medialer Gestaltung 163 Mit der Phonographie beginnt spätestens Mitte der 1920er Jahre eine neue Mu-siktradition des 20. Jahrhunderts und zugleich ein neues ›Begreifen‹ von Musik. Mit einem neuen Aufschreibesystem, einer technischen Notation der hörbaren akusti-schen Signale, die unsere Hörpraxis, unser kulturelles Gedächtnis und nicht zuletzt die Strategien jeder auditiven Gestaltung grundlegend verändert, treten die Begriff-lichkeiten der Tonkunst in den Hintergrund – und die des Sound in den Vorder-grund. Die Medienphänomene der populären Kultur wie etwa das Crooning, Zeit-manipulationen, künstliche Räume, Überlagerungen etc., ihre Gestaltung und ihre Wirkungen sind mit den aus der Notenschrift abgeleiteten abstrakten Begriffen der Kompositionslehre weder zu beschreiben noch zu verstehen. An ihre Stelle treten das Experiment, die Adaption an das neue Medium und die Sprache der Effekte, eine Praxis des Machens, deren Gedächtnis nicht abstrakt notiert, sondern in den Tonträgern begreifbar vorliegt.Damit wird jedoch auch die Schiefage von musikalischer Praxis und ihrer be-griffichen Fassung in der Hörertypologie Adornos oder ähnlich begründeten avan-cierten Kompositionstheorien offenbar. Es besteht zwar kein Zweifel daran, dass das Spektrum von Verstehensleistungen mit dem Grad der Auseinandersetzung, oder besser, der Vertrautheit mit der jeweiligen Musik korreliert. Dass ein Wahrneh-mungsangebot jedoch erfolgreich als musikalisch-ästhetisches Angebot funktioniert, setzt voraus, dass es in den Rahmen von Hörerwartungen passt, welche die entspre-chenden Formen musikalischen Hörens überhaupt erst erlauben.5 Dies gilt in gera-dezu dramatischer Weise für die alltäglichen Medienangebote der auditiven Kultur und den damit einhergehenden Wandel in Produktion und Rezeption. Die in den phonographischen Medien selbst dokumentierten und sedimentierten Verfahrens-weisen bestimmen die musikalischen Phänomene und ihre Rezeption, Begriffe sind dabei nicht mehr als ein Element in der Hör- und Gestaltungspraxis. Der Terminus des Begreifens scheint mir hier besser zu passen als ›Verstehen‹ und dies in zweier -lei Hinsicht: Durch die spezi sche Medialität und Materialität der Phonographie wird Musik buchstäblich als Trägermedium physisch greifbar, gleichzeitig verän-dert sich die Begriffichkeit musikalischer Gestaltung und – wenn man so will – auch die musikalische Logik.Goldene Ohren und phonographische Transformationen Musikalisches Begreifen und Analysieren kann also auf die Erwartungen des Hö-rens und die damit verbundenen Konzepte des ›Machens‹ rekurrieren, welche in der Medienpraxis wiederum mit technischen Verfahren gekoppelt sind. Eine einfa-che und unmittelbare Verbindung des analytischen Hörens zur Medienpraxis ndet sich in didaktisch motivierten Handbüchern der Audioproduktion, so etwa in Jason Coreys » Critical Listening « . Aus einer solchen Perspektive der medientechnischen Poiesis von Musik, die schon deshalb bedeutungsvoll ist, weil sie alle medienästhe-5 S. dazu auch Stephen Davies, Musikalisches Verstehen, in: Becker, Alexander / Vogel, Matthias, Hrsg., Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, Frankfurt a. M. 2007, S. 25–79, hier S. 29.