190 Bernd Ternes (mit Hans Peter Weber)Also: das Medium Luft aus der Form Molekül, Sand aus der Form Körner, Denken aus der Form Vorstellung etc. Diese Eigenformatierung des Mediums ist für jede Be-nutzung des Mediums zwecks Formbildung formbildend; wird sie ignoriert, führt dies meist zur Vernichtung des Mediums.III In der Unterscheidungseinheit ›Medium/Form‹ gibt es eine bestimmte Knappheits-ökonomie der Sichtbarkeit, der Hörbarkeit, der Ausdrücklichkeit, kurz: eine gere-gelte, wenn auch elastische Verteilung der Chancen, positiv werden zu können (sichtbar, hörbar, ausgedrückt, sinnlich wahrnehmbar, denkbar zu werden).Dass ein Mittel oder Werkzeug, das man benutzt, im Moment oder Prozess der An- und Verwendung besser unsicht- und unvorstellbar sein sollte, ist oft festge-stellt und beschrieben worden. Man denke nur an Martin Heideggers Begriffspaar ›Vorhandenheit/Zuhandenheit‹,5 oder an das Paar ›proximaler Term/distaler Term‹ Michael Polanyis.6 Sitzt man im Kino und schaut einen Film, sollte es nicht passieren, dass man die körnige Leinwand zu Gesicht bekommt, auf die man sieht. Spricht man zu jeman-dem hin, sollte es nicht passieren, dass einem die Worte, die man sagt, ins Bewusst-sein kommen. Denkt man nach, sollte es nicht passieren, dass man über das Nach-denken nachdenkt. In allen diesen Fällen träte nämlich ein, dass ein Medium (Stoff, Worte, Gedanken), das bestimmte Formen (Figuren) ermöglicht (z. B. Bilder, Sätze,Ideen), sich selbst zu einer Form verwandelte: aber für diese Form stünde dann kein Medium bereit, zumindest keins, das sich sofort anböte, der verwaisten Form ihr Formsein oder Formhaben zu gewährleisten.7 Es sind genau diese Momente der brechenden Beziehung zwischen Medium und Form, in denen Poiesis und Innovation passieren können: In einer Unmöglichkeit, die dadurch, dass sie passiert, etwas ermöglicht, das bisher unmöglich war. Neue Formen entstehen, neue Medien werden eingesetzt, Funktionen der Form verlagern sich ins Medium, Funktionen des Mediums wandern in die Form aus etc. Die mo-derne, maßgebend bildende, also phänoästhetische Kunst hat sich in dieser Pro-blemlage ›Medium/Form‹ experimentell umgetan, hat die Form ohne Inhalt, einen Inhalt ohne Form, Form und Inhalt ohne Bedeutung zu bilden versucht. Hans Bel -ting 8 fasste gar die moderne Kunst (zumindest ab Cézanne und Rodin) darin zu-sammen: Dass die sichtbaren Werke (die Formen) immer auf das unsichtbare Werk (das Medium der Form) verweisen, auf die noch unentdeckte, unbekannte, unsichtba-re Form, die allerdings nicht mehr zu nden ist. Knapp zwei Jahrhunderte lang er-zeugte dieses Suchen-ohne-zu-Finden die libidinös-ästhetische Spannung für das 5 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1979, S. 71–75, 275.6 Michael Polanyi, Implizites Wissen, dt., FFM 1985, besonders p18ff.7 Medium, Form und ›Medium/Form‹ wird hier in der auf Fritz Heider zurückgehenden systemtheore-tischen Fassung verstanden: das Medium als lose Kopplung von Elementen, die Form als feste Kopp-lung. Asymmetrie besteht in der Dringlichkeit des Brauchens der je anderen Seite: die Form ist mehr aufs Medium angewiesen denn umgekehrt.8 Derselbe, Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München 1998. Der Titel ist eine Anspielung auf die berühmte Erzählung » Das unbekannte Meisterwerk « von Honoré de Balzac.