Weder Nomos noch Logos: Melos 195 Musik. Denn dieses Kulturisationsbegehren ist immerwährend, weil anthropogen tiefsitzend, konditionierend.In den Künsten wird immer Witterung der Nähe, der Verbundenheit aufgenom-men. Doch was als vermeintliche Liaison mit Dingen und Personen gewähnt wird, begrenzt sich realistisch auf eine Erfahrung im Inneren des Menschen: In der exis-tenzialen Gestimmtheit von Kunst, von Musik verbinden sich die aufgelösten aufge-trennten inneren Naturen seiner Psyche. Zeitweilig – in der » Entrückung « – entsteht der Eindruck, die notorisch frei und offen fottierenden Intensitäten fänden einen Halt, den Halt des Menschen. Und diesen Eindruck schafft gerade das Vergessen, das Vergessen der Trennung, Lethe, die Absence durch Kunst-, durch Musikerleben.VI Von Marshall McLuhan stammt der Buchtitel » Understanding Media « aus dem Jah-re 1964. Interessant wird der Titel dann, wenn man ihn subjektivisch und objekti -visch liest; zwar auch als » die Medien verstehen « (in aller Begrenztheit!), betonter aber dann als » die verstehenden Medien « .Dann muss man zugestehen, dass das Medium uns versteht. Und vom Medium in künstlerischer Hand verlangen wir ja gerade, dass es uns versteht – eindringlich! Und dass es diese Eindringlichkeit ausdrückt, sie auf uns drückt: Zumutung und Anmutung der Heftigkeit dieses Verstehens.In den älteren Erfahrungs- und Lesarten war unmissverständlich gewiss: Ja, die-se Musik versteht uns! Und gar: Diese Musik vergibt uns armen Teufeln! – was man etwa über Bach gesagt hat.12 Man erwartete dieses eindringlichere Verstehen, das aus der Musik kam, aus diesem spezi schen Musikprozess mit seiner ganzen In-strumental-Anlage, die in Bewegung des heftigen Verstehens gebracht wurde. Die Kraft dieses eindringlichen Verstehens war zudem operativ mehr – ein Vergeben und Trösten, sie hatte Züge der Absolution, einer musizistisch-medial-gestisch ge-führten absolutio, dieser temporären Lösung, Entregelung von überspannter Stim-mung. Sie verschaffte den Eindruck der heftigen Anmutung von lösenden Stim-mungen, von Grazie-Atmosphären. Das Obsessive dieses eindringlichen Verstehens in seiner (Ab)Gabe reiner Ostination: ostinales Verstehen. Die Musik versteht uns dadurch, dass sie sich als Medium teilnehmend den existenzialen Zügen unseres Temperaments anverwandelt, und dass sie diese Züge in ausgelösten Anmutungen unserem neuro-chromatischen Apparat mitteilt, um uns dergestalt, in der Chroma-tik von Heftigkeit, zu lösen. Wir – die Verstandenen! Vehemente Gelassenheit der Mantik, die uns rein gemüthaft schwach intelligibel versteht. Schwaches Denken der Mantik.12 Typisch liefert Bachs Musik die spirituelle und pulsatorische Technik einer Selbst-Curatierung der Mentation, welche auf Höhe der sich ins In nitesimale versteigenden Spitzentechnik des intellektuel -len forcings seiner Zeit ist. Seine Kontrapunktik führt die Stimmen teils in schwindelerregende Über -reizungen, wo sie wollüstig kaskadenhaft abstürzen können in molare Schwingungen, teils dehnt er sie in eminent insistierenden Klang-Phasen aus, in denen sich sub-tonal die irisierenden (klanglichen) Unruhen des puren Fasziven (der Personalkräfte) vehement ermatten (was bereits Goethe am Beispiel des Konzerts für zwei Violinen diagnostizierte: Entschleunigung der Seele).