204 Jürgen Oberschmidt und ihr die Wahrheit abzuringen. Ludwig Tieck hat feststellen müssen, dass es diese Eigentlichkeit nicht gibt: » Nein, diese Eigentlichkeit ist ein Phantom.« 4 In seiner Vorschule der Ästhetik hat sich Jean Paul ebenso aufgemacht, hinter die etablierten Begriffe zu schauen, auch für ihn ist die Sprache » ein Wörterbuch erblas-seter Metaphern « 5 – und dies trifft selbstredend auch für jedes Wörterbuch der mu-sikalischen Begriffe zu: Jeder Versuch, die futende Luft begriffich zu fassen, ist ein metaphorischer, in jedem etablierten Begriff schwingen metaphorische Konzepte mit, die sich an den jeweiligen, stets wechselnden ästhetischen Normen orientieren und Musik als Sprache, als Energie, als feste Materie oder als organisches Wesen metaphorisch konzeptualisieren. Doch wenn in der Sprache alles irgendwie metaphorisch ist, alternativ alle Be-griffe metaphorischen Ursprungs oder sämtlichen Metaphern Begriffsqualitäten zu-gesprochen werden,6 weitet dies den Metaphernbegriff in die Beliebigkeit aus, so dass er letztlich seine » pragmatische Differenzierungskraft gegenüber nicht-meta-phorischen Sprachformen verliert und so grau wird wie alle Katzen in der Nacht « .7 Wilhelm Köller fügt hier weiter an, dass wir in dieser bedenklichen Situation » das Phänomen Metapher letztlich nicht begriffich, sondern nur metaphorisch objektivie-ren können « .8 Das Wort übertragen (epiphora), das Aristoteles, Ahnherr aller Meta-pherntheorie, benutzt, bezeichnet einen kognitiven Vorgang, nicht den physischen Vorgang des Hinübertragens. So ist nur eines gewiss: Eine Metapher ist eine Meta-pher.Die Metapher überträgt – den Bazillus der Phantasie auf die reine, sterile Vernunft 9 Wissenschaft – und auch jene Wissenschaft, die sich mit den schönen Künsten be-schäftigt – verfolgt die Strategie, wahrheitsfähige Behauptungen aufzustellen und sich im Bereich der sterilen Vernunft zu bewegen. Betrachtet man das Reden über Musik, das den Anspruch dieser Wissenschaftlichkeit einlösen möchte, geht es in besonderer Weise darum, die Tondichtung vor dem Bazillus der Phantasie zu schüt-zen und von allzu zudringlichen semantischen Konnotationen zu befreien. Auch in den Ge lden der Musiktheorie genießt die Metapher keinen guten Ruf; hier dürften sicher auch Erfahrungen mit einer allzu subjektiv-konkreten musikalischen Herme-neutik eine Rolle spielen. Suggestiv statt argumentativ erscheinen etwa Arnold 4 Harald Weinrich, Sprache in Texten, Stuttgart 1976, S. 324.5 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, Hamburg 1990 [1804], § 50, S. 184: » Das tropische Beseelen und Be-leiben el noch in eins zusammen, weil noch Ich und Welt verschmolz. Daher ist jede Sprache in Rück-sicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch erblasseter Metaphern.« 6 Stefan Willer, Art. Metapher/metaphorisch, in: Ästhetische Grundbegriffe, hrsg. von Karlheinz Barck et al., Stuttgart 2005, Bd. 7, S. 89–147, hier S. 89.7 Wilhelm Köller, Perspektivität und Sprache. Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern, im Denken und in der Sprache, Berlin 2004, S. 592.8 Ebd., S. 592. 9 Nach Ulrich Erckenbrecht, Divertimenti. Wortspiele, Sprachspiele, Gedankenspiele, Göttingen 1999, S. 98.