216 Jürgen Oberschmidt von kindlichen Ängsten vor dem Zusammenbrechen und dem Zerfall des Selbst darstellen.57 Der gesamte Konzertsatz wird auf diese Weise dechiffriert und die Ergebnisse bio-graphisch belegt. Zitiert wird hierzu ein Ausschnitt aus der Biographie Maria Bie-solds: Rachmaninoffs willensstarke, übermächtige Mutter war nicht unproblematisch für die seelische Entwicklung des kleinen Sergej und wirkte oft bedrückend auf ihn. […] Prägend für seine spätere Zerrissenheit ist unter Umständen eine Art der Bestrafung, die seine Mutter ihm für Ungehorsam angedeihen ließ: Der kleine Sergej muß unter dem Klavier sitzen! Die erste Bekanntschaft mit dem Instrument ist eine bedrohliche.58 Statt die Metapher als lokales, temporäres Ereignis 59 im Text zu betrachten, entste-hen hier scheinbar objektivierbare Sinnzuschreibungen, die allzu zudringlich wer-den, weil die Metapher hier ihren beweglichen Status als Metapher verliert. Dichter lügen – und sie wissen, dass sie lügen. Die Perspektive von Bernd Oberhoff ist nach-vollziehbar, sinnig, schlüssig. Er versucht eine psychoanalytische Deutung und trägt dabei diesen ihm eigenen Verstehenskontext an das Werk heran. Ein Zugang, der aber genau dann problematisch wird, wenn er zu einer totalitären Deutung der Mu-sik führt, wenn Dichter vergessen, dass sie lügen und die Metapher vergisst, eine Metapher zu sein. Hat Oberhoff nicht genügend Vorkehrungen getroffen, sein Reden über Musik in dem vagen Raum seines eigenen, konstruktivistischen Konzeptes zu belassen? Oder trifft uns, die wir belastet und gezeichnet sind vom schweren Gepäck einer Analyse in der Tradition des Bezeichnens und Benennens, gar eine Teilschuld? Weil wir uns nicht lösen können von den eingespielten Routinen und durch neue Vorstellungen allzu leicht in Turbulenzen geraten?Dem Text von Oberhoff sei nun der Klausurtext einer Schülerin der 11. Klasse an die Seite gestellt. Ein Text von Kim, die es bereits aus anderen Unterrichtszusam-menhängen gewohnt ist, in Bildern zu denken und mit Bildern zu sprechen, um auf diese Weise ihren eigenen Verstehenskontext und ihre eigenen Konzepte in ihr Hö-ren einzubringen:Mit dem ersten Teil verbinde ich einen abendlichen Strandspaziergang. Es ist ein war-mer, ruhiger Sommerabend und ich bin allein am Strand. Während ich langsam barfuß durch den Sand laufe, geht am Horizont die Sonne unter. Ihr schummriges Licht spie -gelt sich auf der Wasseroberfäche und ich höre das gleichmäßige Rauschen der Wellen.57 Ebd., S. 56.58 Ebd., S. 53.59 Ricoeur spricht ausdrücklich von einer Bedeutung, die nur in diesem augenblicklichen Kontext exis -tiert. Vgl. Paul Ricoeur, Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik, in Theorie der Meta-pher, hrsg. von Anselm Haverkamp, Darmstadt 21996, S. 356–375, hier S. 361ff.