222 Jürgen Oberschmidt sche Verstehen aus dem Schonraum bloßer Wahrnehmung in den Status des Verste-hens gehoben wurde und so einen hohen Rang einnimmt? Müssen wir das, was sich in unserem Inneren konstituiert überhaupt noch in Brot verwandeln? Nicht nur Schüler erleben Musik, ohne dass jenes, was sich in ihrem Geist konstituiert, diesen Transformationsprozess durchschreiten müsste. Das gilt im Übrigen auch für die, die sich als ausübende Musiker professionell der brotlosen Kunst widmen und eine regelrechte Allergie gegen die begriffichen Zudringlichkeiten der harten Letterseele musikalischer Analysen entwickelt haben. Das gilt für sprachlose Interpreten, aber auch für Komponisten, die sich über Musik ausschwiegen. Etwa für Arvo Pärt, dem Worte über Musik zu zudringlich erscheinen 68 oder Felix Mendelssohn Bartholdy, für den Musik stets ohne Worte auftritt und der – im Gegensatz zu Robert Schu-mann – » niemals ein Wort über Musik drucken ließ « .69 Es scheint also genügend Anlass zu geben, sich derart fundamentalistisch auf den Unsagbarkeitstopos zu berufen und Musik in dieser Schweigezone zu belassen: Sich im Geheimnis zu wähnen, ohne zu fragen, in welchem, ist ein fauler Trick, von dem die Musik viel zu leiden gehabt hat und der, die bequeme Selbstver-ständlichkeit des Besitzens bestätigend, ihrer Neutralisierung viel Vorschub geleistet hat. Wer die Theoriefeindlichkeit sogenannter Praktiker kennenge-lernt hat, die in der Musik mehr als bei anderen Künsten sich mit einem ab-schottenden Professionalismus verbindet, kann ein Lied davon singen.70 Dem Gerede über Musik wird im Musikunterricht längst das Musikmachen nicht nur an die Seite gestellt. Und dies gerade in Situationen der Aneignung und Ver -mittlung, in denen es um mehr gehen sollte, als einen mitgebrachten Besitz bequem zu bestätigen. Nachgedacht werden muss daher darüber, ob das Reden überhaupt noch täglich Brot des Musikunterrichts sein will – auch Robert Schumann schöpft sein täglich Brot nicht aus der Analyse einer Bachfuge, sondern aus dem eigenen Spiel, also aus seiner sinnlichen Begegnung mit Bach. Drei Äußerungen aus » Perspektiven zu einem brauchbaren Musikunterricht « von Volker Schütz sollen zeigen, wie die Musikpädagogik – bei aller eingestande-nen Notwendigkeit der sprachlichen Refexion – mehr und mehr dazu übergeht, der Musik wortlos zu begegnen: Es gilt, Abschied zu nehmen von der unbefragten didaktischen Maxime, dass das Reden über Musik Wesentliches zur Erfahrung von Musik beitragen könne.68 Arvo Pärt in einer briefichen Mitteilung an Wolfgang Gratzer: » Ich muß in mir Raum frei lassen für Musik, und wenn dieser mit Worten besetzt wird, bleibt mir kein Bedürfnis, mich mit Musik auszu-drücken – und umgekehrt: wenn ich ein Musikwerk geschrieben habe, bleibt nichts mehr mit Worten übrig zu sagen.« Wolfgang Gratzer, Komponistenkommentare. Beiträge zu einer Geschichte der Eigeninter-pretation, Wien 2003, S. 335.69 Überliefert in: Carl Dahlhaus, » Lieder ohne Worte « , in: Ders., Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber 1988, S. 141.70 Peter Gülke, Über Musik schreiben, in: Ders., Die Sprache der Musik. Essays über Musik von Bach bis Hol-liger, Kassel u. a. 2001, S. 4–7, hier S. 4.