228 Karl Heinrich Ehrenforth Zweitens: Schon in meiner Hochschultätigkeit ist mir aufgefallen, dass herme-neutisches Denken offensichtlich mehr eine Haltung als eine Methode meint. Dar -auf hat schon Gadamer hingewiesen. Denn in der Hermeneutik geht es nicht um cartesianisch eingespielte monologische Verfahren der Erkenntnis, die wir als Kinder des Rationalismus heute bereits mit der Muttermilch einsaugen, sondern um genuin dialogisch-zirkulare Verfahren. Dies bedeutet für das Subjekt der Erkenntnis, sich nicht als Herr eines Erkenntnis-Verfahrens zu sehen, sondern als ihr Diener. Subjekt zu sein bedeutet im dialogischen Denken, gemäß dem lateinischen Verb » subiicere « , sich » auszusetzen « , ja zu » unterwerfen « . Solche Verständigungsbereitschaft verträgt keine Herrschaft, sondern ist auf Dienen ausgerichtet. Es ist kein Herrschaftsinstru-ment, sondern ein Instrument des Dienens, also eine Haltung, die dem homo sapi-ens nicht unbedingt in die Wiege gelegt wird.3. Dieses vacuum hermeneuticum in unserem Fach hat sich an zwei Beispielen be-sonders deutlich und problematisch erwiesen. Zunächst in der gängigen Musikver-mittlung, wo immer noch eine Lerntheorie praktiziert wird, wonach man Kindern und Jugendlichen erst einmal die Grundbegriffe der » Musiklehre « beizubringen habe, bevor man an die Musik selbst herantreten könne. Dieser unselige Irrtum ei-nes » grammatischen Fundamentalismus « (Ehrenforth) verfolgt uns bereits seit der Gesangbildungslehre von Pfeiffer und Nägeli von 1810 und wird nicht einmal in der Sprachdidaktik mehr ernst genommen. Vor allem aber ist das Konzept der sogenannten » historischen Aufführungspra-xis « zu nennen. Es ist ihm bemerkenswert unwidersprochen über mehrere Jahr-zehnte hinweg gelungen, sie als ästhetisches Ideal für eine gegenwärtige Interpreta-tionspraxis empfehlen zu können. Hermeneutisch gesehen war das Murks, weil man mit Heraklit beim besten Willen nie zweimal in den gleichen Fluss steigt und Bach spätestens seit der Wiederaufführung der Matthäuspassion 1829 auch nie mehr im » Original « zu hören sein wird. Dass man heute schamhaft-korrekt nur noch von » historisierender bzw. historisch refektierter Aufführungspraxis « spricht,1 ist bezeichnend. Ein Blick auf die geschichtsphilosophischen Konditionen des Ag-giornamento, also der Vergegenwärtigung des Vergangenen, hätte genügt, solcher Naivität Einhalt zu gebieten. Musik ist zu vergegenwärtigen, nicht zu historisieren.4. So versteht sich Hermeneutik als Korrektiv der neuzeitlichen Selbsteinmauerung in einen objektverliebten Cartesianismus, der die subjektiven und historischen Be-dingungen des Verstehens von Welt kaum je wahrgenommen hat. Dieser Objektver-liebtheit setzt jedoch die Hermeneutik keineswegs – wie bisweilen behauptet – eine Subjekteuphorie entgegen. Zwar ist seit der Leibphilosophie Merleau-Pontys 2 klar, dass unsere Weltwahrnehmung ihre Quelle im Leib als dem Raum des Subjekts n-det (und nirgends woanders), und dass deshalb dieses Subjekt weitaus stärker in 1 Vgl. Art. Aufführungspraxis II. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auf., Sachteil Bd. 1, Kassel u. a. 1994, Sp. 955f.2 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, dt. Berlin 1966