234 Karl Heinrich Ehrenforth toralsinfonie Beethovens oder eben als reißender Fluss wie in dessen V. Sinfonie oder gar als » Zeitstrom « in Mendelssohn Bartholdys IV. Sinfonie, zweiter Satz.Spannend wird die Situation, wenn im ersten Satz der Fünften der reißende Strom plötzlich und unerwartet abbricht. Das geschieht nicht erst mit den Bremsun-gen des zweiten Themas, sondern vor allem mit der Oboenkadenz in Takt 268 un-mittelbar nach Beginn der Reprise. Die Fachliteratur begnügt sich hier meist mit dem nichtssagenden Hinweis, die Reprise im ersten Satz sei lediglich » verändert durch (einen) eingeschobenen Kadenztakt der Oboe. T. 268. « 13 Das aber kann jeder hören und sogar ohne Notenkenntnisse in der Partitur feststellen. Aber was diese bemerkenswerte Unterbrechung für das Ganze bedeutet, bleibt unbelichtet. Und die Frage lautet dann nicht nur, was da passiert, sondern warum es geschieht. Erst so könnte die heuristische Neugier auch derer angesprochen werden, die entweder diese Stelle schon oft gehört haben, ohne darauf zu achten oder mit Beethoven über-haupt wenig anfangen können.Nehmen wir an – wie ich es hier empfehlen möchte –, wir stellen die Hörer dar-auf ein, Takt 268 mit der Metapher einer » Insel « mitten im Strom zu verbinden, dann würde die Imagination dieses Sprachbildes dazu führen können, nicht nur einen Anhalt für die Was-Frage zu nden (ohne die Intention der Musik damit ir-gendwie zu verfälschen), sondern auch die Warum-Frage in den » Hörblick « zu neh-men. So wäre zu fragen, warum hier dem Hörer eine distanzierende Pause gewährt wird. Ist es, weil der vorwärtstreibende Strom Angst auslöst und man ein rettendes Ufer sucht? Ist es, weil man diesen Haltepunkt bedauert, weil man aus dem herrli-chen Dahinströmen herausgerissen wird? Je nach Assoziation und Erfahrung geben sich dabei unterschiedliche Perspektiven. Es wäre verhängnisvoll, wollte man sich für die eine oder andere Sicht entscheiden.Für ein modernes Lebensgefühl wäre die Perspektive des Zeitstroms attraktiv. » Strom « und » Insel « lassen Fragen nach Vergänglichkeit und Endlichkeit aufbre-chen. Etwa die, ob Takt 268 nicht einen Fingerzeig dafür enthält, sich dem hekti-schen Strom einfach einmal zu entziehen, weil er uns des inneren Atems und des Lebensrhythmus beraubt. Diese höchst aktuelle Erfahrung eines atemlosen Lebens-tempos provoziert dann den Fluchtpunkt: » Ich bin dann mal weg!« Wir sehen: solches Nachfragen vermag bei den Hörern die verschiedensten Ge-fühlslagen und Reaktionen ans Tageslicht zu bringen, ohne – und das ist wichtig – je die Musik aus dem Auge zu verlieren. Im Gegenteil: sie wird in diesem Bild-Dialog immer lebendiger. Denn alle Fragen, die wir an uns stellen, sind auch Fragen an die kompositorische Gestaltung und damit an den Komponisten selbst. Der Hörer spürt, dass die Musik sein Leben spiegelt. Nur so ist sie mit Bernhard Waldenfels » unsere Welt als andere « .14 13 Wulf Konold in: Ludwig van Beethoven Sinfonie Nr.5 c-Moll, op 67. Taschenpartitur mit Erläuterung. Mainz 1979, S. 185.14 Lebenswelt als Hörwelt. In: Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. Frankfurt/M.1999. S. 198