252 Bernhard Müßgens die Richtung ihrer Aufmerksamkeit deutlich: Die in diesem Moment (am Beginn von Sol Leóns Solo) leicht gespannte und zugleich erspürende Aufmerksamkeit des Ensembles ist auf die umfassende und differenzierte Wahrnehmung der Beziehung zur Solistin und auf ihre BeKndlichkeit gerichtet, die gleichsam auf das gesamte Bühnenoval ausgedehnt und damit raumumfassend von dieser Kopfbewegung nachgezeichnet wird.Der gebundene Muskelspannungsfuss der Solistin und die räumliche Enge und begrenzte, sehr persönliche, fast intime Kinesphäre ihrer Arm- und Körperhaltung beim Stehen vor dem Ensemble sprechen – wie oben angedeutet – für den die Solistin leitenden intentionalen Erkenntnismodus am Beginn ihres Solos. Bestätigt wird diese Vermutung durch die nachfol-gende räumlich zielgerichtete 25 und zugleich die Vertikale betonende (also auch die Raum-ebenen trennende, den Raum fast vertikal durchschneidende) langsame zunächst Auf-, dann Abwärtsbewegung der rechten Hand entlang ihrer rechten Körperseite. Sie wird einleitend von der oben beschriebenen Kopfdrehung des Ensembles begleitet. Die Ensemblebegleitung gleicht dabei eher einem Kontrapunkt als einer harmonisierenden oder homophonen Unter -stützung – wie überhaupt van Manens Ballette Bewegungskontrapunkte im Gegensatz etwa zu homophonen Bewegungen bei Balanchine bevorzugen. Körpernahe Bewegungen und Selbstberührungen im stark gebundenen Muskelspannungsfuss wie diese Auftaktbewegung der Solistin sprechen im Alltag oft von negativen Affekten. Dabei kann es sich um Furcht oder auch um gedämpfte Freude, also um Enttäuschung handeln. Am Beginn des Solos deu-tet das getragene Tempo der Bewegung (das gegen den Impuls zur Flucht bei Furcht spricht) eher auf eine Enttäuschung. Die Bewegung beginnt kurz nach dem Einsatz der h-Moll-So-nate von Domenico Scarlatti, wenige Sekunden nach der Pause, die den letzten Werkab-schnitt von » Kammerballett « eingeleitet hatte, bei 18:45 Minuten zu einem ersten musikali-schen Akzent. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Ensemble und Solistin etwa einen Takt lang bewegungslos verharrt, alle Blicke in Richtung der Kamera. In Takt 2 der Musik dreht die Solistin ihren Kopf aus ihrer Blickrichtung betrachtet nach rechts und stoppt die Drehbewe-gung plötzlich nach dem Erreichen eines Achtelkreises, was zusätzlich für gebundenen Muskelspannungsfuss und hohe Kontrolle ihrer Bewegungen und Emotionen spricht. Am Ende der kurzen Rechtsdrehung ihres Kopfes bleibt ihr Blick leicht nach rechts unten ge-neigt. Die Arme liegen bei aufrechter Körperhaltung (und Betonung der Vertikalen) weiter-hin eng am Körper.Das Ensemble vollführt währenddessen seine vollständige Kopfdrehung und verharrt an-schließend für einen Moment in der beschriebenen leicht angespannten und dabei ruhigen Position. Während die sitzenden Ensemblemitglieder ihre Köpfe drehen und neigen so weit dies anatomisch möglich ist, ohne die Haltung des Oberkörpers zu verändern, wartet die So-listin, auf den nächsten musikalischen Akzent zur Fortsetzung ihres Tanzes. Die Kopfdreh-bewegung des Ensembles reicht dem Tempo nach von einem starken Bewegungsimpuls zu Beginn und einer raschen Bewegung in die Drehrichtung nach rechts ausgehend bis hin zum allmählichen Ausgleiten der Drehbewegung. Diese rasch langsamer und ruhiger wer-dende Kopfdrehbewegung des Ensembles entspricht der ModellgraKk zufolge der Vermu-tung, das das präfrontal rechtshemisphärische Extensionsgedächtnis in diesem Moment 25 Also direkte und die Gerade als Raumweg bevorzugende.