Musikalische Analyse und Wahrnehmung Gerhard Schmitt Die musikalische Analyse gehört traditionell zur Musiktheorie, wo man erpicht ist zu erklären, was ein Stück im Innersten zusammenhält, und das möglichst nach Maßgabe objektiver Kriterien. Wie objektiv diese aber sein können, angesichts des bisher Gesagten zur Metapher, ist mehr als fraglich. Da wäre nämlich zunächst die Feststellung, dass die Musiktheorie dort, wo ihre verstehende Funktion endet, also jenseits ihrer methodologischen Grenzen, sich i. d. R. des beschreibenden Wortes be-dient. Aus pädagogischen Gründen des Vermittelns bleibt das Wort unersetzbar.1 Dann wäre da ferner die Einsicht, dass das Großartige in der Musik nicht beschreib-bar, sondern nur erlebbar ist und insofern der Begriff der Bedeutung in Erscheinung tritt. Bedeutungen aber sind, in der trockenen Diktion der Hirnbiologen, lediglich Erzeugungen von Hirnen, die über ihre Sinnesorgane Wechselwirkung auslösen bei der Übertragung von Schall- oder Lichtwellen und deren Verarbeitung zu chemi-schen Reizen.2 Das heißt, dass noch nicht einmal der Untersuchungsgegenstand der Musiktheorie, eine Partitur z. B., verantwortlich zeichnet für die Bedeutung des Werkes, sondern das, was das Hirn des Analysierenden daraus macht. Alles deutet darauf hin, dass die Musiktheorie sich der perzeptiven Bedingungen ihres Wir-kungsradius ´ im klaren sein sollte, um die Wahrnehmungsinhalte während der Analysearbeit zumindest näherungsweise zu berücksichtigen. Doch wird eine musikalische Analyse dabei ihrer Kernaufgabe, der » Reduktion beobachtbarer Phänomene auf allgemeinere Prinzipien « , noch gerecht?3 Ich denke, ja. Eine bemerkenswerte Studie aus dem Bereich der kognitiven Linguistik belegt dies auf eindrucksvolle Weise.4 Es geht darin um die Schaffung von Wissen, wie 1 Clemens Kühn, Musiktheorie ist Musiktheorie ist Musiktheorie, in: Christian Utz (Hg.): Musiktheorie als interdisziplinäres Fach. 8. Kongress der Gesellschaft für Musiktheorie Graz 2008, Saarbrücken 2010; S. 17–28 (hier S. 18f). Ob Musiktheorie sich deswegen nun » schämen « muss, wie Kühn hier wortwört-lich ausführt, sei dahingestellt. Auf alle Fälle liefert er mit diesem metaphorischen Konzept der Perso -ni zierung den schlagenden Beweis dafür, dass die nachfolgenden Ausführungen zu Wissenschaft und Metaphernmodellen stichhaltig sind.2 Gerhard Roth, Willensfreiheit und Schuldfähigkeit aus Sicht der Hirnforschung, in: Das Gehirn und sei-ne Freiheit. Beiträge zur neurowissenschaftlichen Grundlegung der Philosophie , hrsg. von dems. und K.-J. Grün, Göttingen 2006, S. 9–27 (hier S. 23).3 Nicholas Cook, Struktur und Interpretation. Eugen d ´ Alberts und Heinrich Schenkers Deutung von Franz Schuberts Impromptu op. 90,3 im historischen Kontext, in: Utz 2010, S. 265–288 (hier S. 266).4 Vgl. Petra Drewer, Die kognitive Metapher als Werkzeug des Denkens. Zur Rolle der Analogie bei der Gewin -nung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse, Tübingen 2003.