Musikalische Analyse und Wahrnehmung 299 über sie trifft, herrscht nicht allein der Verstand über die Worte, sondern auch das emotionale Erfahrungsgedächtnis.14 Es wirkt sich direkt auf die Analyse aus.Eine potentielle Andockstelle zwischen diesem Gedächtnistyp und den neu zu gewinnenden Erkenntnissen im Rahmen einer Analyse besteht in der Unmittelbar-keit des Unbewussten. Hier begegnen sich auf der einen Seite die Emotionen, ande-rerseits aber auch jene Daten, die für eine ganzheitliche Gestaltwahrnehmung ver-antwortlich sind. Gemeint sind die basic level concepts, die eine höhere Stufe der un-bewussten Kategorisierung von Erfahrungen darstellen. Drewer bezeichnet sie als » fundamentale Erfahrungen auf mittlerer Abstraktionsebene « .15 Anders als die image schemata, stellen sie eine Art Vermittlung dar bei der kategorialen Verwaltung von Entitäten. Aus Sicht der Kognitionswissenschaft hat der Mensch nämlich eine ihn unbewusst beherrschende Tendenz zur prototypischen Kategorisierung, zu denen diese basic level concepts gehören. Das bedeutet, dass in bestimmten Kontexten be-stimmte Angehörige einer Kategorie bei wiederum bestimmten Menschen als geeig-neter erscheinen als andere. Dies hängt eng zusammen mit der Art und Weise, wie der Mensch seine Umgebung wahrnimmt, denn über seine Primärsinne landen un-endlich viele Sinnesinformationen an. Hätte die Evolution hier nicht den Mechanis-mus der Selektion geschaffen, wäre der Mensch völlig überfordert, daher sind Kate-gorienbildungen die Folge. Abweichend vom aristotelischen Kategoriensystem aber geht man in der Kognitiven Semantik von kategorialen Prototypen und weniger re-präsentativen Verwandten aus.16 Der Prototyp hat den größten Wiedererkennungs-wert und wird von den meisten Individuen als solcher erkannt. Dem basic level und seinen Kategorien kommt offensichtlich eine große Bedeutung zu, was auch die Akquirierung von neuem musiktheoretischen Wissen betrifft. Sie bilden Ausgangs-punkte bzw. » kognitive Referenzpunkte « beim Wissenserwerb und werden mit über- bzw. untergeordneten Kategorien korreliert.17 Prinzipiell handelt es sich um eine individuelle Interaktion zwischen einem Internen mit einem Externen und fun-damental die einfachen Objekte der Welt, fundamental die einfachen Objekte der Welt betreffend. Es konnte aber ebenso gut zutreffend sein, dass es sich bei der Gat-tung des einfachen Kontrapunkts ebenfalls um eine basic-level category handelt, und zwar als Ausgangspunkt zum Verstehen komplexerer musikalischer Idiome.18 Für die Analyse eines Stücks sind mehrere Bedingungen zu berücksichtigen. Eine davon ist die methodische Erweiterung des expliziten (Erklärungs- bzw. Ver-stehens-) Modells im Hinblick auf externe Phänomene, vor allem jene der Bedeu-14 Gerhard Roth, Willensfreiheit und Schuldfähigkeit aus Sicht der Hirnforschung, in: Das Gehirn und sei-ne Freiheit. Beiträge zur neurowissenschaftlichen Grundlegung der Philosophie, hrsg. von dems. und K.-J. Grün, Göttingen 2006, S. 9–27 (hier S. 13).15 Drewer 2003, S. 19.16 Vgl. Eleanor Rosch, Carolyn B. Mervis, Wayne D. Gray, David M. Johnson, Penny Boyes-Braem: Basic Objects in Natural Categories, in: Cognitive Psychology 8, 1976, S. 382–439.17 Vgl. George Lakoff, Women, Fire, and Dangerous Things: What Categories reveal about the Mind, Chicago 1987.18 Spitzer 2004, S. 20. Hier wird die Besonderheit der basic-level categories deutlich. Spitzer übernimmt aus der Kognitiven Semantik die Vorstellung von der basic-level category als das Ausgleichende zwischen Besonderem und Allgemeinem. Die mathematischen Relationen der Stimmführung stehen für das All -gemeine, die Realität der stimmlichen Aufführungspraxis hingegen für das Besondere.» The basic level thus mediates between the theoretical and the practical.« .