Musikalische Analyse und Wahrnehmung 303 rierende Rolle. Das Merkmal Akzent ist in den Noten vorhanden, aber auch in der Darstellung der Phrasierung. Die Wahrnehmung wird mehr oder weniger » umorga-nisiert « , je mehr oder weniger Symbolsysteme das Merkmal Akzent gleichzeitig auf-weisen.25 Wie aber kann eine Musiktheorie einen solchen Übertritt verarbeiten? Ich habe in meiner Dissertation von 2009 eine hermeneutische Analysesystematik entwickelt, die sich als ein Versuch versteht, auf den allgemeinsten Nenner der Vergleichbarkeit zurückzugreifen, das Symbolsystem. Auf dieser Ebene lassen sich sowohl traditionel-le wie avantgardistische Idiome vergleichen.26 Hier geht es aber jetzt nicht um eine Systematik, sondern um die Bedingungen zur Wahrnehmung dessen, was man überhaupt systematisch vergleichen könnte.Es ist daher zunächst notwendig zu klären, was die Wahrnehmung eigentlich leistet, wenn sie mit einer komplexen Klangkunst konfrontiert ist. Was also hat sie zu verarbeiten? Ein Klangstück besteht für den Analysierenden entweder aus Zei-chen auf einer Partitur, aus einer korrespondierenden Klang- und/ oder Bildaufnah-me, aus einer Mischung beider oder aus einem apparativen Aufbau, eine Klangin-stallation beispielsweise. Hier lassen sich nun verschiedene Zeichentypen identi zie-ren, deren Beschaffenheit man in ihrer jeweiligen Ausprägung systematisch diffe-renzieren kann. Bei einer Partitur nennt man die Relationen der Zeichen entspre-chend der Terminologie bei Nelson Goodman untereinander diskret oder auch arti-kuliert.27 Die Bedeutung dieser Zeichen ist mit einer sprachgebundenen Symbolisie-rung und seiner Verarbeitung in einem entsprechenden Hirnareal verknüpft. Das aus einer Menge diskreter Zeichen entstandene Klangstück, das sinnlich Wahrge-nommene also, das womöglich Großartige, hinterlässt unterdessen eine ganz andere Symbolisierung, sie besteht aus analogen oder auch nicht artikulierten Zeichen. Diese gilt es, praktikabel zu integrieren. Neben Goodman haben sich auch andere mit der offensichtlichen Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis beschäftigt, so z. B. die Philosophin Susanne K. Langer mit ihrer Unterscheidung in diskursive und präsenta-tive Symbole.28 Diese Symbole haben ebenfalls jeweils entsprechende Verarbeitungs-zentren im Hirn. Man kann sagen, dass Klangkunst ein großes präsentatives Symbol darstellt; die sie refektierende Sprache aber gehört zu einem anderen Symbolsys-tem. Was bedeutet das für die Analyse und die Wahrnehmung? Der Mensch legt während der Mutter-Kind-Dyade einen ganz speziellen Erinne-rungsspeicher an, der, anders als das sich erst später entwickelnde rationale Ge-dächtnis, im Wesentlichen einem Körpergedächtnis gleichkommt. Der Psychoanalyti-ker Alfred Lorenzer bezeichnet die hier eingeschriebenen » Erinnerungsspuren « als » sinnlich-symbolische Interaktionsformen « und als präsentativ.29 Sie be nden sich 25 Brandstätter 2004, S. 130.26 Vgl. Gerhard Schmitt, Musikalische Analyse und Wahrnehmung. Grundlegung einer interdisziplinären Sys-tematik zur semantischen Analyse von Musik und Sprache, dargestellt an ausgewählten Beispielen zeitgenössi-scher Klangkunst, Osnabrück 2009.27 Vgl. Nelson Goodman, Languages of Art: An Approach to a Theory of Symbols, Indianapolis 1976. 28 Vgl. Susanne K. Langer, Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt a. M. 1965.29 Alfred Lorenzer, Szenisches Verstehen. Zur Erkenntnis des Unbewußten, Marburg 2006.