304 Gerhard Schmitt außerhalb dessen, was üblicherweise über die Sprache kommuniziert wird, etwa zum Zweck der Bewältigung alltäglicher Lebensroutine. Alles, was die Konventio-nen und Regeln dieser Routine verletzt, gesellschaftlich nicht konformes Verlagen und Verhalten beispielsweise, im schlimmsten Fall gesteigert bis zur Obsession, ge-langt in dieses Unbewusste. Lorenzer spricht von einem » Forum unsagbarer Erleb-nisse « , und zählt hierzu auch eine andere Art des Erlebens, das die besagten Gren-zen verletzt, nämlich der » Bereich der ästhetischen Symbole « .30 Alles Musisch-Krea-tive wie Kunst, Tanz, Poesie und Musik verlässt den Rahmen des kontrolliert sprachgebundenen Verstehens und bewirkt in der Wahrnehmung des Menschen eine innere szenische Weitung. Ästhetische bzw. präsentative Symbole bereiten die Basis für ein körpergebundenes Verstehen. Aus elementar-vorbegriffichen Kör-pererfahrungen entstehen Gestalten mit internen Strukturen, die beim CDM unbe-wusst zu metaphorischen Konzepten zusammengefügt werden. Das Unbewusste hält alles Verdrängte vor, ebenso aber auch die Körpererfahrung der frühen Ent-wicklungsjahre und steht mit den Erlebnissen aus der Wahrnehmung von Kunst und Klang in natürlicher Verbindung. Für die Verarbeitung von Sinneseindrücken und ihren Begleitumständen bietet die Embodied Cognitive Science gute Erklärungsmodelle. Alle Erkenntnisprozesse sind das Ergebnis eines wechselseitigen Austauschprozesses zwischen dem Subjekt und seiner Umwelt. Sein Gedächtnis funktioniert dabei nicht, wie man lange ange-nommen hat, als statische Einheit, sondern im Gegenteil als ein Gefüge aus senso-motorisch-affektiven Koordinationsprozessen, an dem der gesamte Organismus be-teiligt ist. Bis zur vollen Entwicklung eines funktionstüchtigen Gehirns steht aller-dings zunächst die Phase zwischen Geburt und Spracherwerb. In dieser frühen mentalen Entwicklungsphase stehen Wahrnehmung und Bewegung im Vordergrund.Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget hat dazu den Begriff der sensomoto-rischen Assimilation geprägt.31 Er bedeutet, dass das Neugeborene die Außenwelt ausschließlich an und über seinen Körper aufnimmt, seine Welt also buchstäblich be-greift. Erst mit dem Funktionieren von Denken und Sprache kann das Kind von sich auf seine Umgebung schließen, als individuelle Entität innerhalb einer Gesamtheit von Entitäten. Seine Umgebung hat es selbst konstruiert, das Baumaterial dieser Kon-struktion sind eben diesen frühen menschlichen, nach Piaget » sensomotorischen Er-fahrungen « . Sie stellen als einfachste Muster von Wahrnehmungen und Bewegungs-absabläufen die Grundformen für alle kognitiven Konzeptualisierungen, die für das CDM notwendig sind. In der Wahrnehmung und bei der Gestaltbildung laufen stets die gleichen Prozesse ab. Bestimmend sind spezi sche Gestaltgesetze, die eine Zu-sammenführung von Klangstrukturen zu kognitiven Klanggestalten bewirken. Nach dem Prinzip der Prägnanz werden Figuren zu Archetypen, wobei komplexe Eigen-schaften in einfache transformiert werden. Das Gehirn ergänzt selbständig Gestalten, somit wird die Wirklichkeit zur Konstruktion. Die Wahrnehmung von Klangkunst beruht folglich auf dem spezi schen Erkennen von Strukturen und Gestalten; Hö-30 Ebd., S. 216.31 Vgl. Jean. Piaget, Theorien und Methoden der modernen Erziehung, Frankfurt a. M., 1974.